20. April 2009 | Kannibalismus

Wie Mensch schmeckt

von Thomas Schmeckpeper. Köln


Ob im Dschungel, im Stall oder in der Kirche: Haben wir uns nicht alle ein bisschen zum Fressen gerne?

Lesezeit 4 Minuten

„Die Japaner schmecken am besten“, so zitierte die EXPRESS letztes Jahr in einer vorweihnachtlichen Ausgabe einen Kannibalen aus Papua-Neuguinea. Moment mal! Ähnliches stand einige Wochen zuvor schon mal in unserem kölschen Kultblättchen: „In der Nähe von San Francisco wurde eine 50-Jährige und ihr Sohn (30) verhaftet, weil sie die Leiche der Mutter Ramona A. (84) auf ihrem Barbecue Grill im Garten einäscherten. Und: Aus einem Stück des Schädelknochens der Toten fertigte sich die Tochter Kathleen A. sogar Halsschmuck.“ Nein, da ist’s vorbei mit rheinischer Toleranz.

Der für den zweiten Fall zuständige Sheriff, Paul Hosler, begutachtete den Tatbestand treffend mit den Worten: „Es ist wirklich abgedreht, wenn du dir ein Stück von Mamas Schädel um den Hals hängst“. Stimmt Paul, nicht gerade die feine Cowboy Art! Deshalb hast Du die Täter dann auch verhaften lassen. Aber jetzt stell Dir Folgendes vor, Paul: Du ziehst mit Deiner Familie in den Urwald, sagen wir mal nach Papua Neuguinea. Die Eingeborenen dort pflegen seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden, den Brauch, ihre Toten einzuäschern und einen Teil der Asche mit Bananenbrei zu verspeisen. Sie ekeln sich nämlich vor dem Gedanken, zwei Meter unter der Erde zu verfaulen und von Würmern aufgefressen zu werden – lieber also in den Magen der Angehörigen. Nun stirbt ein Verwandter von Dir, sagen wir Deine Frau, und Du beerdigst sie natürlich. Das finden die Eingeborenen aber gar nicht lustig, und erst recht nicht pietätvoll. Sie verstehen nicht, wie Du so mit Deiner eigenen Frau umgehen kannst und verhaften Dich – nein genau, Sie essen Dich!

Nun, der „natürliche“ Ekel vor dem Gedanken, Menschenfleisch zu essen, erspart einem zumeist eine tiefere Reflexion über die moralische Rechtfertigung oder Sittlichkeit desselben. Wir behandeln es als gruseliges Relikt vergangener Zeiten. Ab und zu müssen zwar Figuren wie die des Hannibal Lekter oder die Hexe eines Märchens für die Ausreizung dieses Tabuthemas hinhalten. Ansonsten aber verstaubt der Kannibalismus in der macht(e)-doch-eh-nur-der-Buschmann-Schublade. Erstaunlich, denn auch in vielen afrikanischen Gesellschaften grassierte der Mythos vom Menschen fressenden weißen Mann bis ins letzte Jahrhundert hinein.

Dass Kannibalismus keine Marotte unzivilisierter Menschenaffen war, die sich lieber zum Fressen gerne hatten, anstatt das Rad zu erfinden, wissen wir nicht nur Dank der EXPRESS. Kolumbus traf im Kreise der Kariben auf Kannibalen, und auch seine eigenen Erkundungstrupps mussten in Notlagen zu dieser Form der Ernährung greifen. Die einheimischen Wasser- und Waffenträger wurden dadurch auch zu Nahrungsträgern im weiteren Sinne. Ebenso der Fall der im Flugzeug abgestürzten Rugby-Mannschaft 1972 in den Anden. Und wer erinnert sich nicht an den Kannibalen von Rothenburg, Armin Meiwes, der sich sein Festtagsmenü, Bernd Brandes, direkt per Internet nach Hause bestellte?

Kannibalismus beschränkt sich aber auch nicht auf die geschilderten Extremfälle. Werfen wir einen Blick in das Tierreich – also dorthin, wo wir wissentlich nicht hingehören: Unter einigen Spinnenarten ist es Usus, die Mitglieder der eigenen Spezies zu verspeisen, wenn emanzipierte Spinnenweibchen die Gelegenheit der Paarung auch zur anschließenden Verspeisung der Männchen nutzen. In zahlreichen Versuchen und Beobachtungen wurde ebenfalls nachgewiesen, dass Kannibalismus unter Tieren auch haltungs- und stressbedingt entstehen kann. Schweine und Hühner knabberten und pickten an ihren Artgenossen unter extremer Massenhaltung. Ähnliches wurde bei Meerschweinchen, Mäusen und Ratten festgestellt.

Kannibalismus, alltäglicher, als wir es vermuten würden? Das scheint zumindest für den Sonntag zu gelten: „Wer leugnet, dass im Sakrament der heiligsten Eucharistie wahrhaft, wirklich und wesentlich der Leib und das Blut zugleich mit der Seele und mit der Gottheit unseres Herrn Jesus Christus und folglich der ganze Christus enthalten ist, und behauptet, er sei in ihm nur wie im Zeichen, im Bild oder in der Wirksamkeit, der sei ausgeschlossen“, legte es das Konzil von Trient 1551 fest. Die Anerkennung dieser Götterspeise der etwas anderen Art ist bis heute hin für jeden praktizierenden Katholiken dogmatisch. Aber offenbart es eine gemäß der Götterspeise wacklige Argumentation oder einfach nur intellektuelle Diarrhoe, wenn einige Theologen versuchen, das Geheimnis der Transsubstantiation mit der aristotelischen Metaphysik und der Lehre von Wesenswandlung mit gleichzeitiger Beibehaltung aller Akzidenzien, also der Beibehaltung aller äußeren Formen einer Substanz, begründen zu wollen? Zumindest hat diese Vergewaltigung antiker Lehren ein verklärtes Ziel: Zu zeigen, dass nicht, wer Mensch isst, zum Tier wird, sondern wer Gott isst, zum Menschen wird.

Aber tauchen wir wieder auf aus den nicht immer grifffesten Tiefen philosophisch-theologischer Verstrickungen zu etwas handfesteren Beispielen. Die Wissenschaft bezeichnet Fingernägelkauen als Autokannibalismus. Ist es dann ein großer Unterschied, ob ich meine Fingernägel kaue und schlucke oder einen Teil meines amputierten Armes esse? Und wo ist dann der Unterschied zwischen dem Fleisch meines Armes und dem eines anderen? Überhaupt, ist Fleisch nicht gleich Fleisch? Erlauben sie mir deshalb ein weiteres Gedankenexperiment:

Jährlich sterben laut der Vereinten Nationen geschätzte 6 Millionen Kinder an Hunger. Sollte die Wissenschaft nun den Beweis erbringen, dass Menschenfleisch ebenso nahrhaft ist wie Schweine- oder Rindfleisch, wäre es nicht unsere Pflicht – man könnte gar wagen, zu sagen: unsere christliche Pflicht – einen Teil dieser Kinder mit dem Fleisch Verstorbener zu retten? Man müsste ihnen ja nicht sagen, was sie da essen. Stellen Sie sich vor, es wäre ihr eigenes Kind und Sie müssten entscheiden: Tabubruch oder Tod!

Man kann nur mutmaßen, wie Paul der Sheriff sich entscheiden würde. Vermutlich aber der Norm entsprechend, während er sich Fingernägel kauend zur Eucharistiefeier begibt und in der Einheit und Vermählung mit Gott die Heilung der Wunden seiner Gewissensbisse sucht. Halten wir für uns zwei Einsichten fest: Ekel ist nicht immer notwendigerweise angeboren, viel mehr scheint es sich bei ihm um eine durch Erziehung und Kultur verschärfte Disposition zu handeln. Und – in der Gefahr der Binsenweisheit bezichtigt zu werden – dass auch das, was der Mensch isst, nicht notwendigerweise eine Antwort auf die Frage sein kann, was der Mensch ist.

© Cultura21, 20.04.2009



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