Für die Weltenergieversorgung gibt es eine schlechte und eine gute Nachricht. Die schlechte: Das Erdöl geht zu Ende. Die gute: Das Erdöl geht zu Ende. Und nicht nur das Erdöl, sondern früher oder später jede Art fossiler Energie – auch das fossile Uranerz als Basismaterial für atomare Brennstäbe.
Erdöl wurde aus einem schlichten Grund zur meistgenutzten Energie: Nur weil es flüssig und damit leichter nutzbar ist, wurde es zum „schwarzen Gold“ des 20. Jahrhunderts. Doch schon John Rockefeller, der erste und berühmteste aller Ölmagnaten, sprach in dumpfer Vorahnung von „Tränen des Teufels“.
Dass Erdöl eines Tages erschöpft sein wird, war immer schon klar. Aber weil man nicht genau wusste, wann, hat man das Problem verdrängt. Der heutige Alarmismus von Staatsführern verrät, dass sie in den Tag hinein gelebt haben, während die Abhängigkeit ihrer Länder von den sich erschöpfenden Ressourcen immer größer wurde. Doch die Frage, wie lang die Reserven noch reichen, ist nur die drittwichtigste.
Die wichtigste ergibt sich aus folgendem Faktum: Zeitlich näher als die Verfügbarkeitsgrenze liegt die ökologische Belastungsgrenze für die Weltzivilisation. Für den Schutz des Weltklimas müssen nach den Erkenntnissen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) die Klimagase bis 2050 um mindestens 60 Prozent reduziert werden, wenn ein Kollaps der Ökosphäre verhindert werden soll.
Die zweitwichtigste Frage lautet: Was bedeutet die Entwicklung der Energiepreise für die Weltwirtschaft und die einzelnen Volkswirtschaften? Ihr kontinuierliches Ansteigen geht auf mehrere Faktoren zurück. Erstens ist die Zeit des leicht zu fördernden Rohöls („easy oil“) endgültig vorbei, weshalb zunehmend auf teure, nicht konventionelle fossile Potenziale zurückgegriffen wird. Zweitens steigt der Weltbedarf, etwa aufgrund der Entwicklung Chinas und der Zunahme des Weltverkehrs, schneller, als die technisch realisierbaren Angebotsmöglichkeiten wachsen. Drittens wird der Infrastrukturbedarf immer teurer, weil das fossile Weltsystem immer stärker auf die Ausbeutung der letzten Nischenquellen angewiesen ist.
Ein vierter Faktor sind die politischen Unsicherheiten, die in einer kulturell, wirtschaftlich und sozial immer instabileren Welt infolge einer wirtschaftslibertär dogmatisierten Liberalisierung eher zunehmen werden. Damit wächst die Störanfälligkeit des überkommenen Energiesystems, dessen logistische Hauptanforderung ja darin besteht, mit Öl, Gas und Uran von relativ wenigen Förderplätzen und -ländern in langen Bereitstellungsketten die Energieversorgung der ganzen Welt zu sichern. Mit der Störanfälligkeit steigen die politischen und militärischen Kosten der Energiesicherheit, also der Aufgabe, strategische Energieversorgungslinien und -zentren vor terroristischen Angriffen zu schützen.
Mit den steigenden Kosten wird die Energiefalle immer prekärer. Am härtesten trifft es die Entwicklungsländer, deren Bruttoinlandsprodukt (BIP) akkumuliert weniger als 10 Prozent des BIP der „westlichen Industrieländer“ ausmacht und die dennoch Weltmarktpreise für ihre Energieimporte zahlen müssen. Ihre volkswirtschaftliche Belastung liegt damit um das 10- bis 20fache höher. Bei vielen zehren die Energieimporte bereits ihre gesamten Exporteinnahmen auf. 2005 sind die Ölimportkosten der Entwicklungsländer um über 100 Milliarden Dollar gestiegen; das ist deutlich mehr, als die gesamte Entwicklungshilfe aller Industrieländer ausmacht. Währenddessen steigen die Gewinne der oligopolistisch organisierten Energiekonzerne in astronomische Höhen: 2005 machte Exxon 35 Milliarden Dollar Gewinn, Shell 25 Milliarden und BP 22 Milliarden.
Die Weltenergieversorgung ist also heute schon prekär und desolat, lange bevor die tatsächliche Erschöpfung eintreten wird. Deshalb stehen auf dem nächsten G-8-Gipfel in St. Petersburg Initiativen an, mit denen man der Energiefalle entrinnen will. Doch die Pläne sind illusorisch. Denn mit einer weltweiten Renaissance der Atomenergie und der Förderung von „Clean coal“-Kraftwerken tut man so, als wäre das Weltenergiesystem intakt, wenn es nur nicht das Kohlendioxid- bzw. Klimaproblem gäbe. Deshalb wird um der Energiesicherheit willen empfohlen, die Förderländer zu höheren Förderquoten zu drängen und die internationalen Transportnetze auszubauen – was jedoch im Widerspruch zu den Klimaschutzzielen steht. Zwar sollen auch die erneuerbaren Energien gefördert werden, doch steht dieser Ansatz nicht im Zentrum der Initiativen.
Dabei müsste der generelle Wechsel der Energiebasis – hin zu erneuerbaren Energien – längst die absolute strategische Priorität haben. Um dieser Konsequenz immer noch auszuweichen, werden haltlose Ausreden und Entschuldigungen aufgeboten: Das Potenzial erneuerbarer Energien reiche nicht aus, um atomare und fossile Energien ersetzen zu können. Solche Energien auf breiter Front einzuführen sei zu teuer, also eine unzumutbare wirtschaftliche und soziale Last. Auch dauere das Ganze viel zu lange, weshalb in den nächsten Jahrzehnten der Schwerpunkt weiter auf konventionellen Energieanlagen liegen müsse. Und schließlich sei das Problem der Speicherung erneuerbarer Energien nicht gelöst.
Nichts ist schneller aktivierbar als erneuerbare Energien
Keines dieser Argumente ist bei näherer Betrachtung stichhaltig. Die Sonne mit ihren Derivaten (Wind, Wasser, Biomasse, Wellen) liefert unserem Erdball täglich 15 000-mal mehr Energie, als dieser verbraucht. Nichts ist für aktive Energieleistungen rascher verfügbar zu machen als dezentrale Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien. Eine Windkraftanlage ist in einer Woche installiert, eine Großkraftwerk in 5 bis 15 Jahren. Speichermethoden wie Pumpspeicherwerke und Druckluftkraftwerke sind ebenso entwickelt wie effizienzsteigernde Hybridstrukturen, etwa die Kopplung von Sonnen- und Windkraftanlagen mit Wasserkraft oder Bioenergie. Die Möglichkeiten einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien durch eine zügige Erhöhung ihres Beitrags zur Energieversorgung wurde mehrfach beschrieben: für Frankreich bereits 1978 von der Group de Bellevue und für die USA 1979 von der Union of Concerned Scientists.
Die direkten Kosten der erneuerbaren Energien betreffen nur die Bereitstellung der erforderlichen Technik. Brennstoffkosten fallen nicht mehr an. Die einzige Ausnahme ist die Bioenergie, weil die dafür erforderliche land- und forstwirtschaftliche Arbeit bezahlt werden muss. Die Technikkosten reduzieren sich durch Massenproduktion und laufende technologische Verbesserungen. Folglich sinken die Kosten der erneuerbaren Energien tendenziell, wogegen die direkten Kosten konventioneller Energien unaufhörlich steigen.
Gleichzeitig sind die externen Kosten der erneuerbaren Energien minimal. Diese bringen sogar erhebliche volkswirtschaftliche und politische Vorteile: Dauerhaft verfügbare heimische Energie ersetzt fossile Importe; das erhöht die Energiesicherheit und entlastet die Zahlungsbilanz. Der Spielraum für regionale Wirtschaftsformen in Gewerbe und Landwirtschaft wird erweitert. Der Infrastrukturbedarf schrumpft erheblich. Und natürlich werden gravierende Umwelt- und Gesundheitsschäden vermieden.
Mit anderen Worten: Es ergeben sich riesige und weitreichende makroökonomische und -politische Effekte. Sie fallen umso größer aus, je stärker die konventionellen Energien substituiert werden. Sie schlagen jedoch nicht automatisch auf die mikroökonomische Ebene durch. Damit Investoren und Energienutzer sofort und unmittelbar davon profitieren können, ist eine politisch-ökonomische Handlungskunst gefordert, die die gesamtwirtschaftlichen Vorteile erneuerbarer Energien in einzelwirtschaftliche Anreize transformiert. Erst damit wäre die historisch notwendige Energiewende eingeleitet.
Wie das gelingen kann, zeigt das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz. Seine Anreizstruktur hat bewirkt, dass seit 2000 jährlich 3 000 Megawatt neue Kapazitäten aus erneuerbaren Energien entstanden sind, also bis heute 18 000 Megawatt. Das entscheidende Instrument ist dabei der garantierte Netzzugang für jeden Produzenten, bei einer gesetzlich garantierten Einspeisevergütung für einen Zeitraum von 20 Jahren, was freie Investitionen ermöglicht. Die Mehrkosten werden auf alle Stromverbraucher umgelegt und liegen bei jährlich 5 Euro pro Person. Durch diese „Subvention von unten“ entstand ein neuer industrieller Sektor mit 170 000 neuen Arbeitsplätzen. Kein politisches Industrieförderprogramm hat jemals so wenig gekostet und dabei so schnell so viel bewirkt. Die Bürger akzeptieren die Mehrkosten, weil sie das Ziel akzeptieren. Innerhalb von sechs Jahren sind durch die Produktionseffekte die Anlagenkosten um bereits 40 Prozent gesunken. Durch diesen Energiewechsel wird die Luftbelastung pro Jahr um zusätzlich 7 Millionen Tonnen CO2 reduziert. Als klimapolitisches Instrument ist dieses Gesetz damit wesentlich erfolgreicher als der aus dem Kioto-Protokoll abgeleitete Emissionshandel. Und dies ohne bürokratischen Aufwand.
Wenn die erreichte Einführungsgeschwindigkeit konstant bleibt, wird die Stromproduktion aus Atomkraft und fossilen Energien in etwa vierzig Jahren vollständig durch erneuerbare Energien substituiert sein. Dabei werden die direkten Mehrkosten sinken, weil die Kosten für konventionelle Energien steigen. Schon vor 2020 dürften also die Kosten für erneuerbare Energien unterhalb der für Strom aus neuen Atomkraftwerken und fossilen Kraftwerken liegen. Das wird den Energiewechsel weiter beschleunigen.
Ähnliche Substitutionsprozesse können auch in der Wärme- und Kraftstoffversorgung in Gang gesetzt werden. Schon gibt es nicht nur Privathäuser, sondern auch Twin Towers, die sich vollständig selbst aus erneuerbaren Energien versorgen können. Die dafür anfallenden Investitionskosten werden durch die eingesparten Brennstoffkosten amortisiert – allerdings in einer Kalkulation über zehn bis zwanzig Jahre. Im Zuge der Entwicklung von Hybridautos können auch fossile Kraftstoffe für Fahrzeuge durch Biokraftstoffe und durch Elektromotoren mit neuartigen Batterietechniken ersetzt werden.
Dass diese Chance für eine postfossile und postatomare Zukunft nicht gesehen, ja immer noch verleugnet wird, erklärt sich aus einem verengten Energiedenken: Man stellt isolierte Kostenvergleiche an, statt Energiesysteme zu vergleichen. Damit wird aber das überkommene Energiesystem mit seinen Unternehmen als gegebene Größe hingenommen – als sei es technokratisch neutral gegenüber allen Energiequellen und jederzeit bereit und fähig, von einer zu einer anderen Energiequelle zu wechseln.
Dies aber ist eine irreale Vorstellung, die einen vollständigen Mangel an technik- und energiesoziologischem Grundwissen offenbart. Denn eine solche objektive Neutralität kann es rein physikalisch gar nicht geben. Jedes Energiesystem ist zwangsläufig auf die Energiequellen zugeschnitten, die es uns liefert. Die Wahl der Energiequelle entscheidet darüber, welcher politische, wirtschaftliche und technologische Aufwand für Förderung, Aufbereitung, Transport und Verteilung, einschließlich der jeweils erforderlichen Umwandlungstechniken, nötig ist.
Mit dem Wechsel zu erneuerbaren Energien und damit zu vollständig anderen Energieflüssen würde sich demnach alles ändern. Es wäre ein Wechsel von kommerziellen zu nichtkommerziellen Primärenergien, von wenigen großen Kraftwerken und Raffinerien zu vielen mittleren und kleineren, von internationalisierter zu regionalisierter Infrastruktur, von emittierenden zu emissionsfreien Energien. Und nicht zuletzt von hoch konzentrierten zu vielfältigen Unternehmens- und Eigentümerformen. Beim Systemwechsel in der Energieversorgung handelt es sich um ein anderes Paradigma der Technik, Ökonomie und Politik.
Hier liegt der politische Nervus Rerum des Energieproblems. Dies erkennen heißt verstehen, warum wer gegen erneuerbare Energien Widerstand leistet. Und wie dieser Widerstand überwunden werden kann.
© Der Artikel wurde in „Le Monde diplomatique“ vom 9.6.2006 veröffentlicht
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Der Autor
Hermann Scheer ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Weltrates für Erneuerbare Energien. Für seine Schriften und Initiativen erhielt er 1999 den Alternativen Nobelpreis.