Über kaum einen politischen Akteur wird so kontrovers diskutiert und geurteilt wie über politische Parteien. Auf der einen Seite gelten moderne demokratische Gesellschaften ohne ein System konkurrierender Parteien als nicht funktionsfähig. Da Parteien politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse als kommunikative Transmissionsriemen entscheidend prägen, stellen sie eine zentrale Klammer zwischen Staat und Gesellschaft dar. Vor allem mit Blick auf demokratische Ansprüche wird die durch Parteien vermittelte Öffentlichkeit der politischen Meinungsbildung und das von ihnen eröffnete Partizipationspotenzial als unerlässlich für das Funktionieren moderner demokratischer Gemeinwesen betrachtet. Auf der anderen Seite rücken Parteien jedoch auch immer wieder in den Mittelpunkt der Kritik. Der Machtanspruch von Parteien, ihre Defizite in der Problemlösungskompetenz und der Privilegienmissbrauch von Teilen des politischen Personals werden oftmals in Verbindung zu der viel diskutierten Parteienverdrossenheit und Politikmüdigkeit ganzer Generationen gestellt.
In jüngster Zeit wird angesichts zum Teil drastisch gesunkener Mitgliederzahlen darüber hinaus eine nachlassende gesellschaftliche Verankerung von Parteiorganisationen diagnostiziert. Vor diesem Hintergrund wird sowohl seitens der Politik als auch der Wissenschaft zunehmend häufiger auf die Bedeutung von sozialen Bewegungen rekurriert und ihr Potenzial als demokratische Alternative hervorgehoben. In Zeiten, in denen politische Parteien an Bindekraft und an Innovationspotenzial verlieren, so eine weit verbreitete Sichtweise, kommt sozialen Bewegungen als „demokratischen Produktivkräften“ (Dieter Rucht) oder als politischen Korrektiven maßgebliche Bedeutung zu.
Dabei gilt indes zu berücksichtigen, dass Parteien und soziale Bewegungen analytisch nie strikt voneinander getrennt werden konnten. Versteht man mit Joachim Raschke unter einer sozialen Bewegung einen „mobilisierenden kollektiven Akteur“ sind Parteien und soziale Bewegungen historisch eng miteinander verwoben. Ähnlich wie Parteien sind auch soziale Bewegungen in erster Linie gesellschaftlichen Ursprungs. Der Ausdruck „soziale Bewegung“ entstand im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts und ist, wie Klaus Tenfelde hervorgehoben hat, in der zeitgenössischen Sozialkritik Englands, Frankreichs und Deutschlands zunächst synonym für die Arbeiterbewegung verwendet worden. Das hing in erster Linie mit dem Umstand zusammen, dass der Aufstieg der europäischen Arbeiterbewegungen und ihre Formen des sozialen Protests die Wahrnehmung der Zeitgenossen dominierten. Dabei haben soziale Bewegungen typische Artikulations- und Aktionsformen entfaltet und typische Entwicklungsstadien – zumeist vor der Schwelle formaler Organisation – durchlaufen. Mit Blick auf die Arbeiterbewegung hat sich aber zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Stadium der Bewegung eine zunehmend verfestigte und dauerhafte Organisation herauskristallisiert, da ihre Forderungen nach Veränderungen im öffentlich-politischen Raum von den etablierten Akteuren nicht – oder nur partiell – aufgegriffen wurden. Im Fall der Arbeiterbewegung hat sich aus deutscher Perspektive mit der SPD ein Strang der Bewegung als Partei und mit den (Freien) Gewerkschaften eine im Verbandsbereich angesiedelte Organisationsform herauskristallisiert.
In der Regel wird zwischen „alten“ und „neuen“ sozialen Bewegungen unterschieden, und der erste Begriff den großen Bewegungen der Aufklärung und der Industrialisierungszeit, der zweite den Bewegungen der postindustriellen, demokratisch-pluralistischen Gegenwart zugewiesen. Auch im Bereich der neuen sozialen Bewegungen lässt sich ein enges Wechselverhältnis mit politischen Parteien identifizieren. So rückten die neuen sozialen Bewegungen vor allem dann ins Blickfeld, als politische Parteien im Rahmen spezifischer Mehrheitsverhältnisse (Große Koalition) politische oder gesellschaftliche Integrationsleistungen nicht erbrachten. Demgegenüber liegen die Wurzeln der Grünen in den Friedens-, Frauen- und Umweltbewegungen der 1970er Jahre, aus denen sich zu Beginn der 1980er Jahre – nicht zuletzt auf Grund des Unvermögens oder Unwillens der etablierten Parteien, diese Anliegen aufzugreifen und in politische Forderungen umzusetzen – die Grüne Partei formierte. Aus dem parlamentarischen Standbein der sozialen Bewegungen entwickelte sich dann ? nach mehreren „Häutungen“ ? eine Partei, die sich in Struktur und Organisation zusehends den „etablierten“ Parteien angenähert hat.
Dieses gewissermaßen komplementäre Spannungsverhältnis zwischen Parteien und sozialen Bewegungen weist im Hinblick auf die Aktivitätsfelder und Aktionsformen deutliche Trennlinien auf. Während Parteien allgemein auf ein politisches Mandat zielen, sind soziale Bewegungen stärker in ihrer unmittelbaren Lebenswelt verhaftet. Ihr Anspruch besteht darin, die Anliegen und Zielvorstellungen ihrer Aktivisten direkt und unverfälscht ? ohne die Vertreterrolle von Delegierten und Gremien im Sinne der repräsentativen Demokratie ? durchzusetzen. Diese Eigenschaft verleiht Bewegungen ein oftmals spontanistisches und pro-aktives, zugleich aber auch schwer zu kalkulierendes Erscheinungsbild.
Gegenwärtig deutet eine Reihe von Entwicklungen darauf hin, dass die Komplementarität von sozialen Bewegungen und Parteien in ein verändertes Verhältnis mündet. Generell lassen sich mit Blick auf gesellschaftliche Protestformen radikale Veränderungen feststellen, die oberflächlich betrachtet als Bedeutungsverlust sozialer Bewegungen interpretiert werden könnten, in Wirklichkeit aber auf ein grundlegendes Paradoxon verweisen: Während etwa die Anzahl friedenspolitische Basisgruppen seit den 1980er Jahren stark zurückgegangen ist, die bestehenden unter akuten Mitgliedermangel leiden und für die traditionellen Ostermärsche nur noch einige Tausend Demonstranten mobilisiert werden können, kamen im Februar 2003 im Rahmen der globalen Demonstrationen gegen den bevorstehenden Irak-Krieg allein in Berlin über 500.000 Menschen zusammen – eine Zahl, die selbst die großen Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre übertraf.
Der soziale Bewegungen ? trotz aller Spontaneität ? auszeichnende Zusammenhang zwischen Protestartikulation und Organisationen scheint sich grundlegend zu ändern, tendenziell verstärkt hin zur Aktion. Werden die sozialen Bewegungen aber in die Rolle von „Protestmanagern“ gedrängt, erhöht sich auch die Schwierigkeit für Parteien, das Potenzial der sozialen Bewegungen langfristig politisch zu integrieren. Konnten bisher mit der Integration sozialer Bewegungen auch deren Mitglieder für Parteien erschlossen werden, die auch deren Ressourcen zur Politikgestaltung (als zusätzliche Stammwähler, als im Wahlkampf aktive und beitragszahlende Mitglieder) nachhaltig stärken konnten, scheint diese Option heute zunehmend zu entfallen. Nur noch kleinen Parteien, deren Stimmpotenzial strukturell stark begrenzt ist, kann die Integration zivilgesellschaftlicher Organisationen mit ihren Akteuren als sinnvolle Möglichkeit erscheinen, wie sich gegenwärtig an der NPD beobachten lässt, die gezielt auf eine Einbindung bestehender rechtsextremer Subkulturen (Freie Kameradschaften) hinarbeitet.
Diese Tendenzen verstärken sich umso mehr, wie der Protest eine über den nationalen Kommunikationsraum hinausreichende Form annimmt. Insbesondere seit den Protesten im Rahmen des WTO-Gipfels in Seattle 1999 drängte sich eine neue soziale Bewegungen in den Blickpunkt medialer Aufmerksamkeit. Die „Globalisierungskritiker“ reagieren mit ihren Protest auf die rasante Zunahme weltweiter politischer und vor allem wirtschaftlicher Verflechtung und weisen auf die, besonders ärmere Staaten treffenden, sozialen Folgen hin. Bemühungen zur Transformation dieser Bewegungen in eine neue Partei sind bis heute kaum ernsthaft unternommen worden und es erscheint auch fraglich, ob der politische Akteur „Partei“ für die Globalisierungskritiker eine erfolgversprechende Option darstellt.
In weitaus stärkerem Maße als ihre früher entstandenen „Schwestern“, hat sich die globalisierungskritische Bewegung von der Nation als Handlungsraum gelöst. Zwar hatten sich auch bereits die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts die „internationalen Solidarität“ betont und die neuen sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahre postmaterialistische Themen wie den „Weltfrieden“ oder die „ökologische Zerstörung“, die per se transnationale und globale Dimensionen enthielten, auf ihre Fahnen geschrieben. Der Aktionsraum war aber weitgehend ein nationalstaatlicher geblieben. Großkundgebungen, Demonstrationen und Menschenketten wurden national organisiert und richteten ihren Protest vor allem an die eigene Regierung. Die neue globalisierungskritische Bewegung sind zwar immer noch mit Basisgruppen ? frei nach der Maxime „Global denken, lokal handeln“ ? im nationalstaatlichen Rahmen verankert; erfolgreich ist die neue Bewegung aber vor allem auf einer transnationalen Ebene. Mit erstaunlicher Rasanz haben sich die Non-Governmental Organizations (NGOs) auf der internationalen Ebene als legitime Träger des sozialen Protestes etablieren können und erzeugen mit ihren großen Protestaktionen zu Konferenzen und Treffen internationaler Organisationen beträchtliches öffentliches Interesse und erheblichen politischen Druck. Ihr Protest verweist gerade auf jene wichtige transnationale Ebene der Politikgestaltung, auf die nationalstaatlich verfasste Parteien, jenseits der eigenen Regierungsbeteiligung, keinen Einfluss haben.
Doch nicht nur Entwicklungen im Spektrum der sozialen Bewegungen verweisen auf Veränderungen im Verhältnis zu Parteien. Am Beispiel der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) lässt sich umgekehrt auch beobachten, wie die Neugründung einer Partei relativ losgelöst vom sozialen Protest auf der Straße vollzogen wurde. Die WASG war im Herbst 2004 vor dem Hintergrund der Proteste gegen die meist unter dem Schlagwort „Hartz IV“ subsumierten Sozialreformen der rot-grünen Regierung entstanden. Der Protest wurde vor allem von Gewerkschaftern und SPD-Mitgliedern, aber auch außerhalb dieser Organisationen auf der Straße lautstark artikuliert. Die „Montagsdemonstrationen“ im August 2004, auf deren Höhepunkt schließlich 200.000 Menschen in der Bundesrepublik gegen „Sozialabbau“ demonstrierten, hatten ihren Schwerpunkt dabei in den neuen Bundesländern, in denen sich mehrere zehntausend Menschen beteiligten. In Westdeutschland waren es hingegen meist nur einige hundert Demonstranten. Dass die im November 2004 gegründete WASG in den alten Bundesländern den Großteil ihrer Mitglieder gewinnen konnte, deutet darauf hin, dass es sich bei der WASG nicht primär um eine aus einer sozialen Bewegung heraus entwickelte Partei handelt. Die Protestbewegung spielte hier zwar als Demonstration eines breiten Unwillens mit der bestehenden Sozialpolitik eine entscheidende Rolle für die Bildung einer neuen Partei, in dem sie die Neugründung als eine erfolgversprechende Option erscheinen ließ. Die Partei entstand aber nicht aus dem Protest heraus, sondern wurde vor allem von ehemaligen Gewerkschaftern und Sozialdemokraten getragen ? mithin von Aktivisten, die bereits in etablierten politischen Organisationen integriert waren.
Mit Blick auf die hier nur exemplarisch skizzierten Beispiele zeigt sich, dass das bisher eher unbeabsichtigte, aber demokratietheoretisch durchaus erfolgreiche Zusammenspiel von sozialen Bewegungen und Parteien eine neue Dimension zu erfahren scheint. Erwuchs, historisch betrachtet, ein nicht unerheblicher Teil des Parteienspektrums aus dem Umfeld sozialer Bewegungen, der nach der Konstituierung von Parteien mit ähnlichen Überzeugungen und Zielen „Seit’ an Seit’“ mit den sozialen Bewegungen schritt, verweisen die für die jüngste Vergangenheit angeführten Beispiele auf eine gewachsene Unabhängigkeit. Soziale Bewegungen weisen nicht mehr nur allein als „demokratische Produktivkräfte“ auf politische und gesellschaftliche Missstände hin, die Parteien nicht abdecken können. Sozialen Bewegungen kommt als neuen Akteuren im transnationalen Raum, der von politischen Parteien nicht abgedeckt wird ? bzw. angesichts der Fokussierung auf den nationalen Kommunikationsraum auch nicht abgedeckt werden kann ? eine zentrale Rolle als eigenständiger Akteur zu. Auch dort, wo Parteien und soziale Bewegungen im nationalen Rahmen ähnlichen sozialen Protest und identische Interessen artikulieren, sind sie weniger stark als früher aufeinander bezogen. Waren soziale Bewegungen, historisch betrachtet, Keimzellen politischer Parteien oder spezifischer Parteiflügel, verweist die Gründung der WASG auf ein dem Parteiensystem endogen innewohnendes Innovationspotenzial, mit dem schon etablierte Akteure auf soziale Veränderungen reagieren können. Die Bedeutung des bisher maßgeblichen exogenen Faktors „soziale Bewegungen“ bei der Etablierung von Parteien scheint hingegen abzunehmen.
So zeichnet sich eine grundlegende Verschiebung in der Komplementarität von sozialen Bewegungen und Parteien ab, die diese nicht aufhebt, aber die klassische „Aufgabenteilung“ zwischen öffentlicher Protestartikulation durch soziale Bewegungen und dessen Transformation in die politische Entscheidungsfindung durch Parteien verändert. Soziale Bewegungen rücken dabei näher an die Entscheidungsprozesse heran und erheben Anspruch auf Teilhabe – gleichsam auf Augenhöhe mit den Parteien. ——————————————–
Das Institut für soziale Bewegungen
Das Institut für soziale Bewegungen (ISB) ist ein fächerübergreifendes, interdisziplinäres Zentralinstitut der Ruhr-Universität Bochum. Im Kern der Institutsaufgaben stehen Forschung und Lehre über soziale Bewegungen durch regelmäßige Lehrveranstaltungen und Lehraufträge, längerfristige Forschungsprojekte sowie wissenschaftliche Veranstaltungen. Mit besonderer Berücksichtigung der Ruhrgebietsgeschichte werden Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen vergleichend untersucht. Hervorgegangen ist das Institut aus dem vormaligen „Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung“ (IGA), das im Februar 1980 – auf Grundlage des kontinuierlichen Ausbaus einer einschlägigen Fachbibliothek – eröffnet wurde und sich zu einem Zentrum für die Forschung auf dem Gebiet der internationalen und deutschen Arbeiterbewegung entwickelt hat.
© Janosch Steuwer und Jürgen Mittag (Institut für soziale Bewegungen), 10.05.2007