Mit dem Begriff der ‚Neuen Sozialen Bewegungen’ werden in der Öffentlichkeit wie auch in der Bewegungsforschung all jene Bewegungen bezeichnet, die der links-liberalen, emanzipatorischen Bewegungsfamilie zuzurechnen sind. Dazu zählen etwa die Frauen-, Friedens- und Ökologie/Alternativbewegung der zweiten Hälfte der siebziger und ersten Hälfte der achtziger Jahre. Durch den Bezug auf diese Bewegungen wurde der Bewegungsbegriff normativ besetzt: Die Neuen Sozialen Bewegungen sind charakterisiert durch eine Ablehnung von Hierarchie und Führung, Kritik an Macht und Herrschaft, der Forderung nach gleichen Rechten für alle und einer Betonung postmaterialistischer Werte von persönlicher Selbstbestimmung und Identität. In diesem Sinne gelten soziale Bewegungen als Ort der lebensweltlichen Ressourcen einer Gesellschaft, in denen kommunikative Vernunftpotenziale realisiert werden können. Eine solche Perspektive ist jedoch verengt, bleiben doch jene Bewegungen unberücksichtigt, die sich gegen die Auflösung der traditionellen Lebenswelten, gegen den „Verfall“ autoritärer Ordnungs- und Moralvorstellung und gegen die Pluralisierung von Identitätsbildern und Lebensstilen wehren und stattdessen die Rückkehr zu kollektivistischen Ordnungsvorstellungen propagieren. Die Lebenswelt der Akteure selbst kann eben nicht nur eine emanzipativ-kulturelle Ressource darstellen, sondern ebenso Quelle von nicht-instrumentellen, anti-demokratischen und kollektivistischen kulturellen Traditionsbeständen und Sozialisationsmustern sein. Die kollektiven Akteure der Rechten definieren sich als ideologischen Gegenpol gegenüber dem postmateriellen Wertewandel und können in diesem Sinn mit Claus Legge wie als „Anti-Bewegungs-Bewegung“ verstanden werden.
Kontext solcher autoritärer Mobilisierung sind Gewichtsverschiebungen zwischen Ökonomie, Politik und Kultur mit erheblichen sozialen und politischen Folgen. Für einen Teil westlicher Gesellschaften hatte nach 1945 gegolten, dass es zu einer Zähmung des Kapitalismus durch sozialstaatliche Sicherungssysteme, also zu einem Kontrollverhältnis zwischen ökonomischen und politischen Institutionen gekommen war. Dieses Kräfteverhältnis ist zunehmend unter Druck geraten mit gravierenden sozialen und politischen Konsequenzen. Vor dem Hintergrund von kulturellen und ökonomischen Transformationen im Kontext soziokultureller Globalisierung ergeben sich Kontrollverluste sowohl der Politik (durch die Entgrenzung nationalstaatlicher Macht- und Souveränitätsressourcen) wie für die Individuen. Der soziale und sozioökonomische Druck steigt vor dem Hintergrund zunehmend deregulierter wirtschaftlicher Beziehungen und prekärer Bedingungen der materiellen Produktion an. Diese biografischen Kontrollverluste äußern sich in Ängsten vor realer oder relativer Deprivation, Zeit-, Kontinuitäts- und Anerkennungsverfall. An diese Ängste und Verunsicherungen lassen sich autoritäre Reaktionen wie Fremdenabwehr, Wohlstandschauvinismus, Verschwörungstheorien oder eine Ethnisierung sozialer Konflikte anschließen. Die soziale Frage wird dann von rechtsautoritären Ordnungsvorstellungen und nationalen Identitätsnarrativen überformt. Deprivations- und Ohnmachtserfahrungen allein erklären aber nicht, warum Menschen zur Unterstützung autoritär regressiver Angebote und kollektivistischer Identitätsnarrative neigen. Hier ist es angebracht, die spezifisch politisch-historische Konstellation, Identitätsnarrative, Diskurse und Dispositive einer Gesellschaft zu untersuchen, an die autoritäre Bewegungen anknüpfen können. Im Folgenden will ich einen kurzen Überblick über rechtspopulistische, rechtsextreme und fundamentalistische Bewegungen geben.
Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen haben in den letzten Jahren in ganz Europa durch ihre Erfolge für Aufsehen gesorgt. In Österreich wurde die FPÖ unter Jörg Haider gar Teil der Regierung und wurde so auf Ebene der Exekutive wirkungsmächtig, auch in anderen Ländern wie Deutschland, Italien, den Niederlanden oder Dänemark konnten rechtspopulistische Parteien beachtliche Wahlerfolge erzielen. Auch wenn man nicht von einer ungebrochenen Siegesserie sprechen kann – dafür erlitten viele Parteien nach anfänglichen Erfolgen eine Reihe von elektoralen Niederlagen, so sind sie dennoch kein reines kurzfristiges Protestphänomen, sondern spielen in zahlreichen europäischen Demokratien eine bedeutende Rolle. Rechtspopulismus ist nach der Definition von Lars Rensmann durch drei zentrale Merkmale charakterisiert: Sie bedienen ethnozentrisch-fremdenfeindliche, nationalistische oder antisemitische Ideologieelemente, sie inszenieren sich als mutige ‚Tabubrecher’ und beschreiben sich selbst als anti-elitäre Bewegung gegen die „herrschende politische Klasse“. So betrieb Jörg Haider die Umwandlung der FPÖ von einer Partei in eine Bewegung, die, wie es Andreas Mölzer, ein enger Mitarbeiter Haiders, formulierte, als „plebiszitäre Emanzipationsbewegung“ das verkrustete System der zweiten österreichischen Republik zu überwinden trachtet und die Erneuerung eines deutschen Kultur- und Nationalbewusstseins fordert. Der Bewegungsbegriff wird hier verwendet, um sich zum einen von den etablierten Parteien abzusetzen und sich zum anderen einen „herrschaftskritischen Gestus“ zu verleihen. Rechtspopulistische Bewegungen verstehen sich als die „wahren Demokraten“, die zum Ausdruck brächten, was das Volk denke und fühle. Dieser Selbstdarstellung liegt ein Demokratieverständnis zu Grunde, das in der Tradition Carl Schmitts von einem (ethnisch) homogenen Staatsvolk ausgeht.
Durch die Bewegung soll eben jene nationale Homogenität hergestellt werden, als deren Führer sich die rechtspopulistische Elite geriert. Grundrechte und liberaldemokratische Vermittlungsformen erscheinen dabei als Hindernisse. Folglich richtet sich die Kritik nicht gegen Macht und Herrschaft, sondern „gerade gegen den schwachen Staat, den Mangel an Herrschaft und die Schwäche und Feigheit der gegenwärtig Regierenden. Auch nach innen sind rechtspopulistische Bewegungen nicht demokratisch, sondern autoritär-hierarchisch aufgebaut. Bewegung wird hier vor allem als Verbindung einer Elite mit der Masse verstanden.
In der Bewegungsforschung war es lange umstritten, ob man in Bezug auf den deutschen Rechtsextremismus von der Formierung einer dauerhaften Bewegung sprechen kann oder ob es sich vielmehr um kurzlebige Protestphänomene handelt. Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere in Regionen Ostdeutschlands, deuten jedoch darauf hin, dass sich eine solche rechtsextreme Bewegung formiert. Zum einen findet auf struktureller Ebene eine Integration der Akteure statt, das heisst es kommt zur Vernetzung von Gruppen, zur Beschaffung von Ressourcen oder zur gemeinsamen Planung von Protestaktivitäten Darüber hinaus ist regionalspezifisch eine kulturelle Integration zu beobachten, indem die verschiedenen Akteure einen gemeinsamen Interpretationsrahmen entwickeln. Im Mittelpunkt rechtsextremer Bewegungen steht dabei ein völkisch-fundierter, oft rassistisch zugespitzter ethnozentrischer Nationalismus als oberstes Wert- und Ordnungsprinzip, dem konsequenterweise alle anderen Werte und Ziele untergeordnet werden. Die nationale Gemeinsachaft als essentialisierte, homogene Volksgemeinschaft ist das zentrale Leitbild des Rechtsextremismus. In ihren Protestkampagnen werden soziale Fragen ethnisiert und die Rückkehr zum Volk oder zur nationalen Gemeinschaft propagiert. Rechtsextreme Bewegungen nehmen so soziale Ängste auf, kulturalisieren diese und schließen so an längerfristige fremdenfeindliche Einstellungsdispositionen an. Das neue am gegenwärtigen Rechtsextremismus ist die Etablierung einer subkulturellen Bewegung, in der sich Bewegung und Alltagskultur gegenseitig stützen. Diese Bewegung stützt sich auf eine lokal hegemoniale rechte Jugendkultur (vom Jugendclub über Rechtsrock und Schriften), lockere rechtsextrem orientierte Cliquen und fest organisierte Gruppen und Kader. Rechtsextremismus ist in vielen Regionen, vornehmlich in Ostdeutschland, Teil einer „Dominanzkultur“ (Rommelspacher), das heißt, es handelt sich nicht um ein reines Jugendphänomen, sondern jugendliche Gewalteskalationen erhalten ihre Legitimation gerade durch eine (häufig stillschweigende) Unterstützung der Mitte der Gesellschaft. Das ideologische Konzept der „national befreiten Zonen“ der NPD zielt gerade darauf Orte der Gegenmacht zu etablieren, in denen sie eine „völkische Gemeinschaft“ schaffen und kontrollieren können und die als „Aufmarsch und Rückzugsgebiet“ dienen. Dieses Konzept ist nicht auf ein abzugrenzendes Territorium bezogen, sondern zielt auf den liberalen Rechtsstaat und die Demokratie selber. Ziel der Bewegung ist es, die politische Macht zu erobern und einen starken, völkischen Staat zu errichten.
Autoritäre Bewegungen beziehen sich auf jeweils spezifische, in der Gesellschaft vorhandene Symbolsysteme, Identitätskonstruktionen und Deutungsmuster. In den vorgestellten Fällen waren dies insbesondere ethnokulturelle, kulturelle, nationalistische oder auch völkische Identitätskonstruktionen. In Ländern, in denen die Religion eine wesentliche Rolle bei der Bildung der kollektiven nationalen Identität spielte oder ein alternatives Deutungsmuster bereitstellt, können jene religiösen Identitätskonstruktionen mobilisiert werden. In fundamentalistischen Bewegungen wird dann die Religion zum homogenisierenden und ausgrenzenden Kriterium für das Kollektiv Nation oder Volk. Den Pluralisierungen und Identitätsdiffusionen der modernen Gesellschaft setzt der Fundamentalismus einen exkludierenden Identitätsnarrativ einer „Gemeinschaft der Gläubigen“ entgegen, der auf einer manichäischen Weltsicht beruht. Er propagiert ein religiöses Integrationsmodell, in dem die Religion Lösungsrahmen für die gesamte Gesellschaft wird. Dieses Modell der göttlichen Ordnung basiert nicht auf prozeduralen demokratischen Verfahren, sondern auf der absoluten und unfehlbaren Autorität Gottes. In den USA etwa hat sich die Christliche Rechte, in der vor allem evangelikale Protestanten organisiert sind, als Bewegung gegen die emanzipativen Neuen Sozialen Bewegungen, mit ihren Forderungen nach Pluralisierung von Identitäten, Inklusion marginalisierter Gruppen und gesellschaftlicher Liberalisierung, gegründet und versucht das christliche Erbe, allen voran eine traditionelle patriarchalische Sexualmoral, nicht nur zu bewahren, sondern die Gesellschaft nach diesem Bild zu gestalten. Auch in Israel stehen sich post-nationale Zionisten, die gleiche Rechte für alle israelischen Staatsbürger fordern und national(-religiöse) Zionisten, die eine ethnisch-religiöse Gemeinschaftsideologie vertreten, gegenüber. Die ultra-orthodoxe Schas-Partei etwa mobilisiert sehr erfolgreich mit einer solchen religiösen Gemeinschaftsideologie die orientalische Unterschicht. Deren Erfahrungen von politischer und ökonomischer Diskriminierung werden aufgenommen, jedoch in einen kulturellen Konflikt umgedeutet, der durch die Rückkehr zur Religion gelöst werden könne. Fundamentalistische Bewegungen sind nun gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nach innen ihr eigenes Ordnungsmodell verwirklichen wollen, also ein eigenes Milieu aufbauen, in dem die Gruppen und Gemeinden über Netzwerke miteinander verbunden sind und durch politische Organisationen oder Parteien mobilisiert werden können.
All diesen Bewegungen ist gemein, dass sie unterschiedlich ausgeprägte antimodernistische Reaktionsbildungen auf Modernisierungsprozesse und die Moderne darstellen, in deren Mittelpunkt die Rückkehr zu einer und in eine homogene, kollektive Gemeinschaft steht. Dadurch soll „Ordnung“ in das wahrgenommene Chaos moderner Gesellschaften und ihrer soziokulturellen Identitätsdiffusionen gebracht werden. Indem soziale Konflikte ethnisiert werden, richten sich autoritäre Bewegungen immer gegen den ‚Anderen’, der aus dem essentialistischen Kollektiv fällt. Im Gegensatz zu den Neuen Sozialen Bewegung, die sich als intermediäre Bewegungen verstehen, die nicht (unbedingt) auf staatliche Herrschaft zielen, sondern dessen Machtansprüche und Praktiken kritisch hinterfragen, sind die hier vorgestellten Bewegungen auf den Staat ausgerichtet. Der Staat soll wieder ein starker Staat werden, der auch in der Lage ist, seine Feinde zu bestimmen. Sie zielen also nicht (wie die Neuen Sozialen Bewegungen) auf Selbstregierung, sondern propagieren einen autoritär-hierarchischen Staat. In diesem Sinne können die behandelten Phänomene als politische Bewegungen verstanden werden. In der Auseinandersetzung zwischen den Neuen Sozialen Bewegungen und ihren autoritären Gegenbewegungen lässt sich eine neue kulturelle Spannungslinie zwischen post-nationalen und nationalen Orientierungen, zwischen liberal-universalistischen und regressiv, anti-universalistischen, kollektivistischen Ordnungsvorstellungen zeigen, die Teil der Dynamik moderner Gesellschaften sind.
© Steffen Hagemann, 08.05.2007
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Der Autor
Steffen Hagemann ist Politikwissenschaftler am Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind vergleichende politische Kulturforschung mit dem Schwerpunkt religiöser Extremismus Politik und Religion; Autoritarismus; Israel.