Künstlerinnen und Künstlern aus Ländern des Südens und aus der Migrationsszene in Deutschland kommt heute eine neue Aufgabe zu: Botschafterinnen und Botschafter der „Ungehörten“ zu sein. Und so Brücken zu bauen zwischen verschiedenen Welten. Das bedeutet, Menschen aus Ländern des Südens und des Nordens zusammen zu bringen, die von einander lernen, etwas über ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen erfahren und so versuchen können, ihre gewohnte Perspektive zu wechseln und die Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen zu verstehen. Das bedeutet, Menschen zu treffen, die einen anderen kulturellen, ethnischen oder regionalen Hintergrund haben, Menschen zu treffen, die andere Verhaltensweisen oder einen anderen Glauben haben. Letztendlich wollen die Menschen eigentlich überall in Würde und Frieden leben und arbeiten. Sie alle wollen die Möglichkeiten verbessern, ihre Kinder gut und sicher aufziehen, und ihre Grundbedürfnisse sichern.
Bei diesem grundlegenden Ziel, den Alltag Anderer zu verstehen, einander näher zu kommen, kommt dem Theater, der Musik, Literatur, Fotografie, Kabarett und anderen Kunstformen eine neue Bedeutung zu.
Das bedeutet, auf die künstlerischen Ausdrucksformen von Menschen, die aus anderen Ländern, Kulturen und Ethnien kommen, zu bauen. Das bedeutet auch, den Gebrauch der Sinne, des Herzens, der Gefühle als eigenständige Ressourcen des Verstehens einzubeziehen.
Ein weltweites Thema: Die menschlichen Würde
In den 80er Jahren gab es in vielen Dörfern Nicaraguas Theatergruppen von Bauern, die sich in der Bewegung „teatro campesino“ zusammengeschlossen hatten. Hier hatten die Dorfbewohner angefangen, ihre Probleme in kleinen Theaterstücken auf den Plätzen und in den Sälen zu thematisieren: etwa, das unterschiedliche Engagement der Mitglieder bei der Mitarbeit in den Kooperativen, Alkoholprobleme oder die Gewalt gegen Frauen. Von Zeit zu Zeit trafen sich diese Theatergruppen zu Festivals, um sich gegenseitig ihre Stücke vorzustellen und ihre Erfahrungen auszutauschen.
Obwohl die Probleme in den Dörfern damit nicht aus der Welt waren, trugen sie doch dazu bei, diese bewusst zu machen und das soziale Leben im Alltag zu verbessern. Dass der deutsche Radiosender WDR über diese Theatergruppen berichten wollte, erstaunte die Menschen in Nicaragua. Und bei einer Theatertournee in Deutschland begeisterte sich das hiesige Publikum bei zahlreichen Auftritten für Einblicke in das Leben, den Humor und die Kreativität der nicaraguanischen Theatergruppe.
Etwa zur gleichen Zeit präsentierte eine Gruppe junger Schauspielabsolventen in Guatemala – das Teatro Vivo (Lebendiges Theater) – mit großem Erfolg das Stück „Die Welt der Esel“. Sie spielten nicht im Nationaltheater, sondern gingen zu den Menschen, die noch kein Theater von innen gesehen hatten, in Schulen, Dörfer, Fabriken. Die Botschaft von „Die Welt der Esel“ war es, Menschen zu ermutigen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Nach einigen Jahren musste das Teatro Vivo Guatemala verlassen, die „Weiße Hand“, das drohende Zeichen der Todesschwadrone des Diktators an ihrer Haustür war eindeutig. Heute weiß man, das in diesem Bürgerkrieg bis zu 100.000 Menschen getötet wurden oder „verschwanden“ und dass Millionen ihr Land verlassen mussten.
Über beschwerliche Umwege und unterstützt von zahlreichen Künstlern in Europa, fand das Teatro Vivo politisches Asyl in Frankreich und wurde mit „Die Welt der Esel“ bei zahlreichen internationalen Festivals genauso enthusiatisch gefeiert, wie in Kulturzentren und Gemeindesälen in ganz Europa. Wohl deshalb, weil es mit einem minimalen technischen Aufwand ein weltweit bedeutendes Thema, das der menschlichen Würde, auf die Bühne brachte und mit einer gehörigen Portion Humor die Gefühle und die Gedanken des Publikums ansprach. Nicht zufällig war ein Slogan vieler Demonstrationen im damaligen Lateinamerika: „Queremos pan y dignidad“ (Wir wollen Brot und Würde). Viele ihrer darauf folgenden Stücke, „Ixok“ (Frau) zur Situation von indigenen Frauen oder „Ay, Ay Ay, Café“, ein Wirtschaftskrimi zu den Produktionsbedingungen unseres liebsten Getränkes, waren und sind bis heute Publikumsrenner.
„Visible Visions“ – Sichtbare Visionen einer andern Welt
2002 machte eine internationale Kunstausstellung Visionen von Künstlerinnen aus drei Kontinenten sicht- und erfahrbar. Das Leben der Frauen in Südafrika, ihr Alltag zwischen Traum und Wirklichkeit, bestimmen die künstlerischen Werke, die uneingeschränkt den Blick auf das Leben und die Meinungen („nur Frauen halten dieses Land zusammen“) ganz unterschiedlicher afrikanischer Frauen freigeben.
Erstmals arbeiteten neun Künstlerinnen und zwei Künstler aus Südafrika, Deutschland, Irland, Kroatien, Brasilien und den Niederlanden mit 20 südafrikanischen Frauen zusammen. Sie wählten dazu eine ungewöhnliche Methode: Mit Einweg-Kameras fotografierten die südafrikanischen Frauen ihren Lebensalltag, ihre unmittelbare Umwelt. In Interviews erzählten sie außerdem, was sie unter nachhaltiger Entwicklung verstehen und auch, welche Visionen sie damit verbinden. Mehr als 400 Fotos und 11.000 Worte bildeten so die Basis für die eigenständigen Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler, die diese entweder direkt in ihre Werke integrierten oder sich davon inspirieren ließen. Das Ergebnis: Gemälde, Objekte, Video- und Rauminstallationen, die zusammen mit den Fotos der Frauen in der Ausstellung in verschiedenen Ländern und Kontinenten zu sehen waren.
Mit „Visible Visions“ haben die Künstlerinnen während des UN-Gipfels in Johannesburg mit Kunst auf globale Themen wie Frauenarbeit sowie das soziale Engagement von Frauen aufmerksam zu machen. Im Zentrum des politischen Machtgeschehens sollten die mehrheitlich männlichen Entscheider mit den „sichtbaren“ Meinungen von Frauen, die von politischen Entscheidungen zur nachhaltigen Entwicklung am stärksten betroffen sind, konfrontiert werden.
Eine der wichtigsten politischen Herausforderungen für die demokratische Entwicklung
So wie das Teatro Vivo haben Künstlerinnen und Künstler aus vielen Teilen der Welt auf Grund von politischer Verfolgung Asyl in Europa erhalten. Mit der zunehmenden Globalisierung ist auch die weltweite Migration angestiegen, sei es auf Grund von Arbeitsuche, Flucht vor Bürgerkriegen, Umweltkatastrophen oder gezielter ethnischer Vertreibung. Obwohl die meisten Migrationsbewegungen die westlichen Länder nur peripher erreichen, müssen sich aber alle heutigen Gesellschaften mit der sich verändernden Bevölkerungszusammensetzung und den daraus resultierenden Konsequenzen auseinander setzen.
In Deutschland ist hat mittlerweile jedes dritte Kind im Alter von sieben Jahren einen oder zwei Elternteile mit Migrationshintergrund. Da gerade in großen Städten überproportional hohe Quoten von Migranten leben, ist das Verhältnis hier weitaus größer. In Rotterdam, der Heimatstadt Pim Fortuyns, sind dies mittlerweile 50 % der Bevölkerung. Die für fast alle Migrantinnen und Migranten zum Alltag gehörende Erfahrung geringerer sozialer und kultureller Anerkennung und Teilhabe, ist ein wesentliches Hemmnis für die gesamte Entwicklung in Deutschland. Die auch für die deutsche Mehrheitsgesellschaft erlebbare Zweiklassengesellschaft war schon einmal der Ausgangspunkt verheerender Geschichte. Heute ist sie eine der Ursachen für den zunehmenden Rechtsradikalismus.
Bedingung für das Gelingen einer Integration der bei uns lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ist neben der rechtlichen Gleichstellung vor allem auch eine soziale Partizipation und kulturelle Repräsentanz. Das Teilnehmen, das Sich-Wiederfinden und Wahrgenommenwerden in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen ist eine notwendige Voraussetzung für eine gelingende Identifizierung und ein sich daraus entwickelndes gesellschaftliches Engagement.
Hier stecken noch wenig wahrgenommene Chancen und es zeigt sich eine der wichtigsten politischen Herausforderungen für eine friedliche und demokratische Entwicklung: der Kultur als Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus auch hier zu Lande einen ernst zu nehmenden Platz einzuräumen.
Die Kunst lässt den Menschen ahnen, welche Möglichkeiten in ihm stecken
Ein ermutigendes Zitat von Louis Michel, dem EU-Kommissar für Entwicklungspolitik, weist in diese Richtung. Auf die Frage, wofür er zusätzliches Geld für die Entwicklungshilfe einsetzen würde antwortete er, dass er in den Aufbau verlässlicher und transparenter staatlicher Strukturen investieren würde. Und führt weiter aus: „Und ich weiß noch etwas, wofür man unser Geld sinnvoll ausgeben könnte: für Kunst und Kultur. Wenn den Menschen bewusst werden soll, dass ihr Land nicht für alle Zeiten unterentwickelt bleibt, wenn sie das Gefühl der Minderwertigkeit los werden sollen, dann lässt sich dieses Bewusstsein am besten durch Kultur schaffen. Die Kunst lässt den Menschen ahnen, welche Möglichkeiten in ihm stecken. Wer etwas über die Kunst und das Schöne lernt, der lernt außerdem etwas über die Menschlichkeit.“ (in: Die Zeit 06/2005)
Das gilt nicht nur für die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Südens, sondern auch für die Entwicklung eines friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen in den Städten und Gemeinden Deutschlands.
© Tina Jerman, 01.08.2007
———————————–
Zur Autorin
Tina Jerman, Kulturwissenschaftlerin, Fachkoordinatorin für Kultur und Entwicklung im Eine-Welt-Netz Nordrhein-Westfalen, angesiedelt bei der EXILE-Kulturkoordination, Essen. Seit einigen Monaten ist sie Ehrenmitglied von Cultura21.