30. Juli 2010 | Afghanistan

„Ein Riesenschwindel“

von taz.


Die Öffentlichkeit wurde von der Nato und ihren Verbündeten systematisch getäuscht, sagt der Afghanistan-Experte Albert Stahel. Ein Interview von Sven Hansen (taz), Berlin.

Lesezeit 3 Minuten
taz - die Tageszeitung

taz: Herr Stahel, in Afghanistan werden die Taliban immer stärker, trotzdem sollen die Afghanen 2014 die volle Verantwortung für die Sicherheit des ganzen Landes übernehmen. Macht dieser Beschluss Sinn?

Albert A. Stahel: Das ist eine Farce. Die Amerikaner und die Nato wollen sich zurückziehen, weil sie aus diesem Krieg nicht als Sieger herausgehen können. Wenn man die Bevölkerung nicht gewinnen kann für so einen Krieg, dann hat man ihn verloren.

Wie interpretieren Sie die Nennung des Übergabedatums?

Das hat mehrheitlich zu tun mit der Präsidentschaftswahl in den USA. Obama kann nicht ein zweites Mal antreten und sagen, ich bin immer noch im Krieg. Er hat diesen ja vor den letzten Wahlen als richtig bezeichnet und behauptet, dass er ihn gewinnen wird. Also braucht er für die nächsten Wahlen eine Abzugsperspektive.

Gleichzeitig sollte auch Druck auf die Karsai-Regierung ausgeübt werden. Warum funktioniert das nicht?

Karsais Regierung kontrolliert ja nur einen kleinen Teil des Landes. Dann ist die Regierung ineffizient und Karsai nur aufgrund von Wahlbetrug überhaupt noch an der Macht. Entscheidend aber ist, dass die Regierung liiert ist mit der organisierten Kriminalität, der Drogenmafia. Natürlich sind die Taliban ein Problem, vor allem in der Region Kandahar und Helmand. Aber wenden sich die Kriminellen ab, dann ist Karsai Geschichte.

Wie muss man sich diese organisierte Kriminalität vorstellen?

Es gibt zwei Drogenstränge: Opium/Heroin und Cannabis. Wo früher Schlafmohn angebaut wurde, wächst heute Hanf. Am unteren Ende der Handelskette stehen im Norden und Osten eher Kleinbauern, im Süden eher Pächter. Über ihnen agieren jene, die die Ernte einsammeln, dann jene, die sie verteilen. Ganz oben in der Pyramide stehen 20 bis 25 Personen, eine davon ist der in Kandahar lebende Halbbruder von Karsai. Diese Drogenhändler sind mit der organisierten Kriminalität in Pakistan, Zentralasien und Russland verbandelt. Das von den Afghanen im Drogenhandel verdiente Geld kommt über Dubai, Karatschi und Neu-Delhi in die Finanzzentren des Westens. Die Drogenmafia in Afghanistan ist sehr gut vernetzt, der Handel ist sehr lukrativ und macht mindestens die Hälfte des afghanischen Bruttosozialprodukts aus.

Wenn die afghanische Armee bis 2014 die Sicherheit nicht gewährleisten kann, welche Optionen haben die USA und die Nato dann noch?

Egal was die Afghanen leisten können, die Amerikaner werden mehrheitlich abziehen und sich auf ihre Stützpunkte im Osten konzentrieren und außerdem das Stammesgebiet in Pakistan mithilfe von Drohnen weiter unsicher machen. Das Tragische ist, dass das Nation-Building nicht stattgefunden hat. Es wurde wieder ein Staat errichtet, aber keine Nation. Dabei trat man an, um das Schulwesen und die Wirtschaft zu fördern. Hier aber ist kaum etwas passiert. Ein Riesenfehler: Man hätte von Anfang an mit sehr viel mehr Mitteln reingehen müssen.

Warum gibt es zu Karsai keine Alternative?

Es hätte eine gegeben, wenn man Abdullah Abdullah aufgebaut hätte, aber das wollte man nicht. Zu groß war die Angst, dass er zu sehr mit den Russen und den Iranern liiert ist.

Karsai weiß, dass alle Druckmittel gegen ihn ausgeschöpft sind?

Sicher. Der Mann ist schlau, charmant und wird einfach versuchen zu überleben. Und im Zweifel ist der Koffer gepackt, und das Flugzeug steht bereit.

Es hat schon diverse internationale Afghanistankonferenzen gegeben, die Situation wurde aber nicht besser, sondern schlechter.

Wenn man wirklich das Land hätte aufbauen wollen, hätte man eine Art Vormundschaft errichten müssen, teils im Auftrag der Nato, teils der UNO. Mit ihrer Hilfe hätte man die Bauern unterstützen und so die ländlichen Regionen entwickeln können. Stattdessen wurde das Geld haufenweise über die UNO in die vielen Hilfsorganisationen gepumpt. Ich habe eine Untersuchung gemacht: Von 100 Millionen kommen günstigstenfalls zwischen einer und fünf Millionen bei den Bedürftigen an, der Rest verschwindet – bei den Hilfsorganisationen und bei Karsais Kumpanen, die das Geld nach Dubai bringen. Ein Riesenschwindel.

Hätten die stolzen Afghanen denn eine solche Vormundschaft akzeptiert?

Jetzt nicht mehr, aber als ich 2002 dort war, hätte man es akzeptiert.

Was kann man heute überhaupt noch machen?

Nicht mehr viel. Aber man könnte im Norden Straßen bauen. Wichtig wäre auch, Kabul zu sanieren, vor allem die Trink- und Abwasser- und Abfallentsorgung. Die Uhr tickt.

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Albert Stahel

ist Professor für Politik und leitet das Institut für Strategische Studien an der Uni Zürich. Bereits im Vorfeld kritisierte er die Afghanistankonferenz scharf.

Profil: taz – die Tageszeitung

Featured Image: TiM Caspary / PIXELIO



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