Die Gesellschaft braucht Hochschulen als Orte riskanten Denkens, meint der Romanist und Feuilletonschreiber Hans-Ulrich Gumbrecht. Neue Schnitte in den Blinddarm können dort an Modellen und Leichen erprobt werden, ohne damit gleich einen Patienten umzubringen, und da kann ein Derrida mal fragen, ob Heidegger durch seine Nazi-Verstrickung wirklich diskreditiert ist, ohne dass deshalb der nächste Glatzkopf einen Farbigen zusammenschlägt. Dazu brauchen Hochschulen Distanz zur Gesellschaft, Freiheit vom Zwang, Tag für Tag das Bruttoinlandsprodukt zu mehren, oder eine Politik zu rechtfertigen, die keine Alternativen mehr kennt.
„Einsamkeit und Freiheit“ hieß das früher. Vor Jahrzehnten haben wir dagegen protestiert, dass die Protagonisten dieser Hochschulfreiheit sie als ideologisches Mäntelchen nutzten, um damit ihre Verantwortungslosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen, sei es die Nazivergangenheit ihrer Disziplin, der Umweltschutz oder die Friedlosigkeit der Gesellschaft zu verbergen. Doch heute sieht die Hochschulwelt anders aus. An die Stelle der damals nur scheinbaren Distanz zur Gesellschaft ist die offene Indienstnahme der Hochschulen für die hegemonialen Interessen getreten. Sei es, dass die Hochschulen ganz allgemein dem Ziel der „Lissabon-Strategie“ der EU zu dienen haben, aus Europa die wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaftsmacht zu machen, oder dass sie Bachelors für die unmittelbare Verwertbarkeit ausbilden soll, oder ihre Forschungsergebnisse ohne Umwege bei den Unternehmen abzuliefern haben. An der Universität Bonn zum Beispiel werden schon mehr als ein Dutzend Lehrstühle von Privatfirmen bezahlt, an der Universität Dresden finanziert vodafone einen Lehrstuhl, dessen Inhaber die Netzwerke zwischen Hochschule und Industrie knüpft. All das gilt heute nicht mehr als anstößig, sondern als Nachweis von Reformfreude und Modernität.
Die Autonomie der Hochschulen zu sichern war die Aufgabe des Staates. Doch heute werden Bildungspolitiker nicht müde, den Staat, den sie vertreten, anzuprangern als bürokratisches Monster, das die Hochschulen in ihrer Freiheit einenge. Der Staat zieht sich aus den Hochschulen zurück. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel werden sie zu eigenen Anstalten öffentlichen Rechts. Jetzt atmen alle auf, meint NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart, die sich durch staatliche Rahmenbedingungen gehemmt fühlen.
Doch die Hochschulvertreter fühlen sich so gar nicht befreit. Mit Skepsis sehen sie auf die neu zu bildenden Anstaltsspitzen, die Hochschulräte. Sechs bis zehn Leute sitzen in diesem Rat, von denen mindestens die Hälfte, wenn nicht sogar alle von außerhalb der Hochschule kommen müssen, mit einem Vorsitzenden, der auf keinen Fall ein Hochschulangehöriger sein darf. Diese Leute, und nicht mehr das Land Nordrhein-Westfalen, auf das Professoren und andere Beamte ihren Eid geschworen haben, bilden künftig die oberste Dienstbehörde der Hochschulangehörigen. Bisher hatte das Ministerium, immerhin mit einer gewählten und vom Landtag kontrollierten Spitze, die Freiheit der Wissenschaft zu sichern, nun macht das dieses Gremium, das sich niemandem gegenüber legitimieren muss. Seine Mitglieder kann man, anders als Beamte oder Minister, weder absetzen noch versetzen. Dieser Hochschulrat wählt das Präsidium der Hochschule, die neue, starke Leitung, er trifft die strategischen Entscheidungen über die Struktur der Hochschule und über ihr Profil.
In den Hochschulräten, die es auch in anderen Bundesländern gibt, sitzen vor allem Unternehmensvertreter – je hochrangiger, desto besser für die Hochschule. Auswahlkommissionen suchen nun nach den, wie es im Gesetz heißt, „Persönlichkeiten aus verantwortungsvollen Positionen“, die einer Anstalt der sittlichen Bildung, wie es bei Humboldt noch hieß, vorstehen können. Sind das Vorstandsvorsitzende, denen der Ruch anhängt, in Bestechungsskandale verwickelt zu sein? Die für die Vernichtung von Arbeitsplätzen Millionenprämien kassieren? Was werden die Leute mit dem Management-Know-how sagen zu den Ägyptologen oder Althistorikern, deren Output an Absolventen nicht viel höher ist als ihr Umsatz an Drittmitteln, ja, die nicht einmal viele Veröffentlichungen in hoch gerankten amerikanischen Publikationen vorweisen können?
Margret Wintermantel, die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, ist sonst allem gegenüber aufgeschlossen, was, wie das nordrhein-westfälische Gesetz, aus der Schmiede des Bertelsmann-eigenen Centrums für Hochschulentwicklung kommt. Doch dass nun die Professoren im Senat der Hochschule die Leitung nicht einmal mit wählen dürfen, sondern nur noch bestätigen oder ablehnen, das widerspricht auch ihrer Auffassung von Freiheit der Wissenschaft und akademischer Selbstverwaltung. Und ebenso, dass der örtliche Sparkassendirektor als der Vorsitzende des Hochschulrats der Dienstvorgesetzte des Hochschulpräsidenten ist, bei dem er künftig seine Dienstreisen beantragen muss.
Hochschulen müssen Orte bleiben, an denen offene Fragen ohne Vorbehalte gestellt werden können. In ihnen sollen junge Leute zu kritischem Denken erzogen werden. Wissenschaftliches Denken, das lerne man in den USA in der ersten Studienphase, die mit dem Bachelor abschließt, meint Hans-Ulrich Gumbrecht. Erst später dann, wenn man dieses methodische Rüstzeug erworben hat, lernt man das notwendige Berufswissen in „professional schools“ die man dann mit dem Master abschließt. Die Studienreform in Deutschland kehrt dieses Verhältnis um: Bachelor bekommen eine verschulte Ausbildung mit dem Ziel, sie rasch für einen Beruf anzulernen, und nur noch eine ausgewählte Minderheit kann sich in einer späteren Phase mit wissenschaftlichem Denken befassen.
Mindestens ebenso dramatisch wie diese Umfunktionierung der Hochschulen ist jedoch, wie hilflos deren Angehörige darauf reagieren. Kommt man heute als Journalist an die Hochschule, so erklären einem Professoren wortreich, wie sie gerade ihre Studiengänge reformieren. Doch wenn man das Mikrofon beiseite gelegt hat und die Atmosphäre entspannter wird, erfährt man, dass sie eigentlich nicht wissen, worin eigentlich der Sinn dieser angeblichen Reformen bestehen soll. Auf einer Tagung des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen über das sogenannte Hochschulfreiheitsgesetz hört man in der Kaffeepause Entsetzen über eine Reform, die den einen nicht durchdacht erscheint, in den Augen anderer auf eine Entmündigung der Hochschulen hinaus läuft. Doch nachher in der öffentlichen Debatte hört man nichts mehr von den Kritikern. Da geht es nur noch darum, wen man denn in den neuen Hochschulrat berufen könne. Diese Doppelzüngigkeit erinnert mich an DDR-Zeiten – mit dem Unterschied freilich, dass man damals mit Kritik wirklich seine soziale Existenz gefährdet hatte.
Alternativen wagt niemand mehr zu äußern. Die Hochschulen haben offenbar ihre Funktion schon aufgegeben, Orte riskanten Denkens zu sein.
© Karl-Heinz Heinemann, 14.02.2006
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Der Autor
Karl-Heinz Heinemann wurde 1947 geboren. Nach Studium in Frankfurt Abschluss als Diplomsoziologe. Studentenfunktionär. Danach Redakteur einer pädagogischen Zeitschrift. Heute freier Bildungsjournalist. Publikationen u.a.: „Ein langer Marsch“, Biografien von Alt-68ern.