12. Juni 2012 | Nach der Modernisierung

Die Wiederentdeckung der Peripherie

von Davide Brocchi. Köln


Die Finanzkrise ist ein weiterer Symptom für eine „Krise der Zentralität“ – und auch sie führt zu einer Neuaufwertung der „kreativen Marginalität“. Während die Zentren die Modernisierung vorangetrieben haben, wird der Motor der zukunftsfähigen Entwicklung vor allem in den Peripherien liegen.

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Seit mehr als 60 Jahren ist die Modernisierung das weltweit dominante Modell gesellschaftlicher Entwicklung. Das Weltbild der Modernisierung kann – zugespitzt – so beschrieben werden:

  • Die gesellschaftliche Entwicklung verfolgt eine „rationale Gestaltung“ des Planeten (vom Chaos zur Ordnung, von der natürlichen Komplexität zur künstlichen Monokultur, vom minderwertigem Rohstoff zum hochwertigen Produkt) und eine „Zivilisierung des Menschen“ vom Naturwesen hin zum Hochkulturwesen. Dies entspricht zwei wesentlichen Merkmalen der Moderne: (a) die cartesianische Trennung von Natur (res extensa) und Geist (res cogitans); (b) die Herrschaft des Menschen über die Natur, die erst im Alten Testament (Genesis 1:28) festgeschrieben und dann von Francis Bacon zum Grundsatz der modernen Naturwissenschaften gemacht wurde. Die einzige Existenzberechtigung, die die Moderne der Natur anerkennt, ist jene des Nutzens für den Menschen.
    „In der Herrschaft über die Natur ist die Herrschaft über den Menschen inbegriffen“ schrieb der Sozialphilosoph Max Horkheimer 1967. Auf der Asymmetrie Natur/Mensch basiert die hierarchische Wertung von Kulturen, Individuen und menschlichen Aktivitäten. Während die „Naturvölker“ und die Landarbeiter nah an der Erde leben, drückt sich die exklusive Hochkultur durch die Künste und die konzeptionelle Arbeit aus. Während Traditionen die bestehenden Lebensverhältnisse bloß reproduzieren, zielt die Moderne auf eine ständige Innovation.
  • Die Modernisierung geht von einer universalen, linearen gesellschaftlichen Entwicklung aus, nämlich von einer undifferenzierten primitiven Gesellschaft zu einer differenzierten modernen Gesellschaft. Walt Whitman Rostow, Ökonom und ehemaliger Berater des US-Präsidenten, sah in der (amerikanischen) Massenkonsumgesellschaft das höchste Stadium einer gesellschaftlichen Entwicklung. Ronald Reagan und Margaret Thatcher erhoben die neoliberale Wirtschaftspolitik zum T.I.N.A.-Prinzip (There Is No Alternative).
  • Die Wirtschaft ist das dominante Subsystem der modernen Gesellschaft; das Geld das dominante „Medium“. Oberstes Handlungsziel der Wirtschaft ist Wachstum: Ihm darf zwar viel untergeordnet, aber nur wenig vorgezogen werden. Das materielle Wachstum wird einem „egoistischen“ Menschenbild gerecht: Jeder Mensch sei praktisch unersättlich, wolle immer mehr haben, denke nur an sich selbst und könne deshalb nur schwer teilen. Mit einem solchen Wesen ist es ratsamer zu konkurrieren als zu kooperieren (s. freier Wettbewerb).
    So wie ein Wachstum die unverzichtbare Voraussetzung für alles, was wünschenswert ist, gefährdet eine Rezession den Wohlstand, das Gemeinwesen und die Investitionen für die Umwelt. Das Wirtschaftswachstum ist praktisch so unbegrenzt wie die Möglichkeit des technologischen Fortschritts.
  • Der treibende Motor der Modernisierung sind die gesellschaftlichen „Zentren“ und die dominanten „Eliten“, nämlich die Menschen, die sich für überdurchschnittlich gebildet, innovativ, kreativ, unternehmensfreudig, leistungsorientiert und flexibel halten. Weil die Entwicklung der Gesellschaft nicht homogen verläuft, bilden sich um die Zentren herum rückständige „Peripherien“. Hier leben vor allem Menschen, die an ihren Traditionen festhalten, bildungsfern, unkreativ und renitent gegenüber Lebensveränderungen sind.
  • Die Zentren und die dominanten Eliten sind das „Subjekt“ der gesellschaftlichen Ent-wicklung. Sie sprechen sich eine besondere „Verantwortung“ über das zu entwickelnde „Objekt“ zu, die leider auch in „Macht“ umschlagen kann. Die „Mission“ der Modernisierung besteht darin, den „unterentwickelten“ Ländern und Peripherien zu helfen, ihren Entwicklungsrückstand gegenüber dem Vorbild (dem Westen; dem Zentrum; sich selbst) aufzuholen. Im Fall der USA handelt es sich sogar um einen göttlichen Auftrag – mit dem Namen „Manifest Destiny“. Das Spektrum der Maßnahmen geht von der „Demokratisierung“ Afghanistans bis zur Strukturanpassungsmaßnahmen für verschuldete Länder und „One Laptop per Child“-Programme für Afrika; vom Bau von Einkaufszentren in „strukturschwachen Regionen“ bis zur Gentrifizierung. Die Zentren wissen am besten, welche Entwicklung für den Rest der Weltgesellschaft gut ist. Als Gegenleistung für die hohen Investitionen erwarten sie die Bereitschaft, Opfer zu bringen, um das Ziel des dauerhaften materiellen Wohlstands für alle zu erreichen.
  • Die Modernisierung ist eine Top-Down-Strategie. Eine Partizipation von „unten“ ist vor allem dann erwünscht, wenn sie die vorgegebenen Ziele legitimiert und den Top-Down-Prozess unterstützt. „Mitgestaltung“ oder sogar „Self-reliance“ ist entweder nicht vorgesehen oder wird sogar als Störfaktor für die Effizienz der vorgesehenen Entwicklung gesehen.
  • In der Modernisierung hat die Kultur eine ambivalente Bedeutung. Einerseits erhebt sie Werte wie „Wirtschaftswachstum“, „Wettbewerb“, „Privateigentum“ oder „freie Marktwirtschaft“ zum indiskutablen Naturgesetz – durch die Verschleierung ihrer kulturellen oder gar ideologischen Relativität. Andererseits wird Kultur entweder auf ein Hemmnis der Modernisierung reduziert oder zu einer Funktion der Wirtschaft gemacht (z.B. Innovation durch Kreativität, Kulturindustrie, Image, Bildung = Berufsausbildung).

Die Nachhaltigkeitsdebatte ist vom Weltbild der Modernisierung stark geprägt – oder zumindest stark beeinflusst. Die Agenda 21 befürwortet eine Liberalisierung des Welthandels, „um die gesetzten Umwelt- und Entwicklungsziele auch tatsächlich verwirklichen zu können“. Die Strategie der „ökologischen Modernisierung“ reduziert den Umweltschutz lediglich auf eine Frage der Technologie und der Kostenberechnung. Auf Wachstum verzichten? Lieber spricht man vom „qualitatives Wachstum“ oder gar vom „nachhaltigen Wachstum“, wobei „nachhaltig“ hier fast wie „unbegrenzt“ klingt.
In der Nachhaltigkeitsdebatte wird das Thema „soziale Ungleichheit“ oft auf die Armut in Afrika reduziert, während der Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut verschwiegen wird. Es ist das schwächste Glied in der Kette (der Verbraucher, der Discount-Kunde, die Armen), das immer wieder als Hauptverursacher von Umweltproblemen genannt wird.

Gerade das Weltbild der Modernisierung bildet jedoch die kulturelle Matrix einer drohenden globalen „Metakrise“. Kann man eine solche Krise mit der gleichen Kultur vorbeugen oder meistern, die sie verursacht hat?

Kultureller Wandel statt materielle Not

Es waren drei Atomkatastrophen nötig (Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima), um Deutschland zum Ausstieg aus der Kernenergie zu bewegen. Wie viele Klimakatastrophen werden nötig sein, um zu einer postfossilen Gesellschaft zu kommen?
Eine radikale gesellschaftliche Wende wird so oder so in diesem Jahrhundert kommen – die Frage ist, ob sie a posteriori, durch die materielle Erfahrung der Klimakrise und des Peak Oils, verursacht sein wird – oder hingegen a priori, nämlich in Form einer immateriellen Kulturwende. Während der erste Weg durch Polarisierungen, Konflikte und Kriege kennzeichnet ist, wird der zweite ein friedlicherer sein, nach der Vorbild der kulturellen Revolution der Perestrojka, die 1989 das Ende des Kalten Kriegs einleitete.
Der Weg zur zukunftsfähigen Gesellschaft benötigt „Change Agents“, die die kulturellen Wurzeln der globalen Metakrise auf allen Ebenen kritisch reflektieren und die kulturelle Relativität von Werten wie „Wachstum“, „Privateigentum“ oder „Fortschritt“ bewusst machen – und zwar auch durch den Dialog mit anderen Kulturen. So wie eine biologische Evolution genetische Mutationen benötigt, so bedarf der Kultur, unserer gesellschaftlichen DNS, „kulturelle Mutationen“.

Für eine Kulturwende reicht eine rationale Analyse der Moderne nicht aus. Eine verinnerlichte Kultur wirkt sich aus dem Unbewussten aus und kann nur durch Hilfe psychotherapeutischer, pädagogischer oder künstlerischer Ansätze (u.a.) verändert werden.

Die sozialen Bewegungen sollten sich in eine kulturelle Bewegung umwandeln, besser: in eine multi-, inter- und transkulturelle Bewegung. Daran sollten sich nicht nur Intellektuelle, Künstler, Kreative oder Studenten beteiligen, sondern auch Vertreter anderer Kulturen und sozialer Schichten.

Die Krise der Zentralität

Auf den internationalen UN-Klimakonferenzen wirken die USA (die letzte verbliebene Weltmacht) immer isolierter. Ein symbolträchtiges Signal: Die zukunftsfähige Entwicklung wird nämlich andere Vorbilder als die Modernisierung haben. Ihr Motor wird nicht mehr in den Zentren liegen. Sie haben am meisten von der bisherigen Entwicklung profitiert. Warum sollten sie etwas daran ändern?

Die Versprechen der bisherigen Entwicklungspolitik (Agenda 21, Millenniumsziele u.a.) wurden nicht eingehalten. Im Gegenteil werden viele globale Probleme immer größer: Die weltweiten CO2-Emissionen nahmen in den letzten Jahren noch schneller zu, während die Schere zwischen dem ärmsten Fünftel und dem reichsten Fünftel der Menschheit weiter auseinanderklafft – und zwar auch innerhalb reicher Länder.
Obwohl die Eliten eine besondere Verantwortung für die drohende globale Metakrise tragen, hemmt ihre Dominanz jene kritische Selbstreflexion, die für einen Lernprozess nötig wäre. Bei einer Rede am 5. Oktober 2009 beklagte der ehemalige Bundespräsidenten Horst Köhler, dass eine „tiefer gehende Selbstreflexion der globalen Finanzakteure“ nicht einmal nach der schwe-ren Finanzkrise von 2008 stattfand.
Obwohl jene Finanzkrise die Frage nach dem Sinn und der Logik des dominanten Wirtschaftsmodells aufwarf, haben die „Eliten“ bisher nur auf ihre „Legitimationskrise“ reagiert. Die „Handlungsmuster“, die zur Finanzkrise geführt haben, sind hingegen bis heute unverändert geblieben.
Die Regierungen haben eine enorme Staatsverschuldung in Kauf genommen, um das alte System zu retten, nicht um ein neues nachhaltiges System zu schaffen.
Im Bezug auf die ökologischen und sozialen Herausforderungen wirken die Zentren immer unbeweglicher. Vor allem sie sind abhängig von nicht-nachhaltigen Strukturen: von Finanzmärkten, Erdöl oder Wachstumszwang. Ihr Privateigentum und hoher Lebensstandard ist eine Last, wenn Veränderungen gefragt sind.
Die Zentren sind derart mit sich selbst beschäftigt (Stress), dass ihnen kaum kognitive Ressourcen für die Wahrnehmung ihrer Umwelt übrig bleiben. Der angehäufte Reichtum vermittelt ihnen ein trügerisches Gefühl der Immunität gegenüber jedem Risiko und jeder potenziellen Krise.

Die kreative Marginalität als Motor zukunftsfähiger Entwicklung

Die Finanzkrise ist ein weiterer Symptom für eine „Krise der Zentralität“ – und auch sie führt zu einer Neuaufwertung der „kreativen Marginalität“. Während die Zentren die Modernisierung vorangetrieben haben, wird der Motor der zukunftsfähigen Entwicklung vor allem in den Peripherien liegen.
Im Vergleich zum Zentrum ist das Leben in der Peripherie spontan statt rational geplant; realitätsnah statt selbstreferentiell; integrierend statt ausgrenzend; multikulturell statt monokulturell.

Das theoretische Wissen über viele Probleme und die bewährten Lösungen ist bereits vorhanden. Was hingegen fehlt, ist das praktische Wissen, das in gesellschaftlichen Labors entstehen kann. Die freien Räume dafür befinden sich vor allem in den Peripherien. Der Zusammenbruch der Schwerindustrie hat im Ruhrgebiet einen breiten Leerstand zurückgelassen.
Während die Ideen der Steady State Economy von Hermann Daly oder der Decroissance von Serge Latouche wie eine Horrorvorstellung unter den dominanten Eliten klingt, gibt es in den Peripherien bereits eine lange Erfahrung mit Minuswachstum und Dematerialisierung.

Die Anziehungskraft der Peripherie liegt genau in ihrer niedrigeren Ökonomisierung. Viele „Kreativen“ fühlen sich von Berlin-Neukölln und Köln-Ehrenfeld angezogen, weil sie dort die Möglichkeit der Selbstentfaltung und des sozialen Experimentierens finden. In der Peripherie kann die Dematerialisierung des Lebens als „immaterielle Freiheit“ gelebt werden.
Zusätzlich bietet die oft ausgeprägte „Multikulturalität“ der Peripherie das Potenzial für eine wahrhaftigere Konstruktion der „Globalität“ jenseits der Massenmedien.

Besonders interessant sind die gesellschaftlichen Labors, die in Ländern entstehen, die eine schwere Finanzkrise bereits bestanden haben oder gerade durchmachen, wie Argentinien und Island. Eine argentinische Künstlerin berichtete mir bei einem persönlichen Gespräch etwas, was mich immer noch stark beschäftigt: Gerade während der schweren Wirtschaftskrise, die Mitte 2002 ihren Höhepunkt in Argentinien erreichte, berichtete die Presse, dass das Kulturleben in Buenos Aires eine besonders blühende Phase gerade durchmachten. Überall bildeten sich spontane Theatergruppen und künstlerische Initiativen, freie Räume wurden besetzt und für soziokulturelle Aktivitäten verwendet. Lange Zeit war das Wirtschaftswachstum die Voraussetzung, um sich Kultur zu leisten. Ist heute die Deökonomisierung die Voraussetzung für die kreative Entfaltung?

Hierarchiefreie Kommunikation

Das Zentrum und die Peripherie sind keine entgegengesetzten Pole. Ihre Asymmetrie ist gleichzeitig eine Beziehung. Die Selbstbestimmung der Zentren ist oft die Fremdbestimmung der Peripherie. Gleichzeitig sind die Zentren keine geschlossenen Systeme, sondern auf die natürlichen und menschlichen Ressourcen der Peripherie angewiesen.

Die Peripherien sind selbst vom modernen Weltbild beeinflusst. Brasilien hat sich politisch und ökonomisch vom Westen emanzipiert, setzt jedoch selbst auf Wachstum und fossile Energieträger. Die Chinesen orientieren sich ebenso an westlichen Statussymbolen. Immer mehr Autos ersetzen dort das Fahrrad.
Durch die Massenmedien, die Werbung und das Hollywoodkino haben die Unterschichten in der ganzen Welt die gleichen Erfolgsmusters der Mittel- und Oberschicht verinnerlicht. In den Peripherien entsteht nicht unbedingt mehr Solidarität, sondern auch ein Wettbewerb für den sozialen Aufstieg oder gegen den weiteren Abstieg.
Die Entfaltung der „kreativen Marginalität“ im Sinne der Nachhaltigkeit hat deshalb eine entscheidende Voraussetzung: die „Dekolonisierung der Imagination“ (Serge Latouche).

Die Zentren sind keine kompakte, undifferenzierte Einheit. Die Occupy-Bewegung ist in den Großstädten entstanden. In der Finanzwirtschaft gibt es Aussteiger, die den Zynismus des Systems nicht mehr vertragen. Offenbar gibt es auch im Inneren von Menschen, die zur Elite gehören oder für die Elite prädestiniert sind, eine innere „kreative Marginalität“, die sich entfalten will.

Während die Beweglichkeit der Zentren durch Stress und Überlastung gehemmt wird, bremst die materielle Not das kreative Potenzial der Peripherie. Eine zukunftsfähige Entwicklung setzt auf Umverteilung und ein gleichberechtigter Dialog zwischen Zentrum und Peripherie. Nicht die Peripherien sollen gentrifiziert, sondern die Zentren deökonomisiert werden.

Profil: www.davidebrocchi.eu

Featured Image: Ariane_Sept / PIXELIO



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