8. Juni 2011 | Studie

Toleranz in autoritären Staaten?

von Bernd Hegen. Koblenz


Eine Forschungsgruppe hat die psychologische Gründe für kulturelle Unterschiede zwischen Gesellschaften untersucht. Das überraschende Ergebnis: Toleranz und politischer Autoritarismus können in einer Gesellschaft koexistieren.

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Warum scheren sich in dem einen Land die wenigsten Menschen um die Straßenverkehrsordnung, während in einem anderen diese größtenteils befolgt wird? Oder warum kann man in Europa problemlos in der Öffentlichkeit Kaugummi kauen oder sich küssen, während das in Singapur oder Japan streng reglementiert ist beziehungsweise sich nicht ziemt? Ein internationales Forscherteam hat in einer 33 Länder umfassenden Studie die Gründe dafür untersucht, warum manche Gesellschaften mehr und andere weniger tolerant sind gegenüber Verhalten, das von der Norm abweicht. Die Ergebnisse sind jetzt in dem amerikanischen Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht worden.

Als Gründe für einen restriktiven Umgang mit Normen ergaben sich beispielsweise eine hohe Bevölkerungsdichte, knappe Ressourcen, häufige Naturkatastrophen, Unruhen oder Krankheiten und Epidemien – alles soziale Belastungen, die das alltägliche Leben über lange Zeit erschwert haben.
„Verletzt in einem solchen Sozialverband jemand eine Norm, hat das gravierende Auswirkungen im Gegensatz zu Gesellschaften, die nicht oder weniger unter Druck stehen“, erklärt Manfred Schmitt, Professor für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Koblenz-Landau, einer der in Deutschland für die Studie verantwortlichen Wissenschaftler und Mitautor der Studie. Die jeweilige Normorientierung hin zu Toleranz oder Strenge wird Bestandteil einer Kultur, über Erziehung, Schule oder Religion an nachfolgende Generationen weitergegeben und schlägt sich in der individuellen Psyche nieder. „Das Entwickeln von Normen ist ein träger Prozess, der sich über mehrere Generationen nicht verändert“, so Schmitt. Dennoch könne es zu Verschiebungen aufgrund von gravierenden Anlässen kommen, wie in den USA, wo nach den Terroranschlägen vom 11. September das Bedürfnis nach Sicherheit und somit der Ruf nach strengeren Regeln und Sicherheitsvorkehrungen lauter wurde.

Das Forscherteam führte insgesamt 6.823 Interviews in 33 Ländern weltweit durch und fragte beispielsweise nach angemessenem und unangemessenem Verhalten in verschiedenen öffentlichen Situationen, danach wie Menschen auf unangemessenes Verhalten reagieren oder wie gut Menschen verstanden, welches Verhalten von ihnen erwartet wird. Anhand der Ergebnisse unterschieden die Forscher strenge Länder mit wenig zulässigem Verhalten und tolerante Länder mit einer großen Bandbreite an statthaftem Verhalten.

Innerhalb der untersuchten Länder führt Pakistan die Liste der restriktiven Gesellschaften an, gefolgt von Malaysia, Singapur und Südkorea. Zu den tolerantesten Ländern der Studie zählen Estland, Ungarn, Israel, die Niederlande und Brasilien. Den vordersten Platz belegt – zur Überraschung der Forschergruppe – die Ukraine.

Zu verstehen, was sich hinter normativ toleranten und strengen Gesellschaften verbirgt, ist in einer Welt von steigender globaler Abhängigkeit entscheidend, so die Meinung des Autorenteams. „Dies Wissen kann interkulturelles Verständnis fördern und dazu beitragen, dass wir weniger wertend anderen Kulturen gegenüber sind“, so Schmitt.

Das Ranking der untersuchten 33 Länder (vom tolerantesten zum strengsten Land): Ukraine, Estland, Ungarn, Israel, die Niederlande, Brasilien, Venezuela, Neuseeland, Griechenland, Australien, die USA, Spanien, Belgien, Polen, Hongkong, Frankreich, Island, Westdeutschland, Italien, Österreich, Großbritannien, Mexiko, Ostdeutschland, Portugal, China, Japan, Türkei, Norwegen, Südkorea, Singapur, Indien, Malaysia, Pakistan.

Die Studie:

Differences Between Tight and Loose Cultures: A 33-Nation Study

Michele J. Gelfand, et al.
Science 332, 1100 (2011)
DOI: 10.1126/science.1197754

Profil: www.uni-koblenz-landau.de

Featured Image: Jurec / PIXELIO


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