Über Russland wird viel geredet; aber kaum einer weiß wirklich Bescheid. Das war zu Sowjetzeiten nicht anders. Aber diese notorische Ungewissheit galt nicht nur für den Westen, sondern für das Riesenreich selbst.
Am besten informiert über die Wirklichkeit war damals der sowjetische Geheimdienst. In ihm wuchs in den achtziger Jahren die Gewissheit, dass die Stellung der Sowjetunion als Supermacht ohne tiefgreifende Reformen nicht zu halten war. Geheimdienstler hatten auch die Notwendigkeit von realitätshaltigen Gesellschaftswissenschaften begriffen. Diese Einsicht gewannen sie auch aus den Arbeiten von ihnen verfolgter Wissenschaftler.
In den siebziger Jahren hat Victor Zaslavsky mit einer Untergrundsoziologie der Sowjetunion begonnen, die einen klaren Blick auf das Elend der sowjetischen Stagnationsperiode ermöglichte. Seine glasklare Analyse der Breschnew-Zeit erschien 1982 bei Wagenbach, nachdem die Behörden ihm die Ausreise in den Westen ermöglicht hatten. Zaslavsky blieb dem Land, das er verließ, durch vielfältige informelle Kontakte verbunden. Sein letztes Buch über das Massaker von Katyn, „Klassensäuberung“, zeigt Zaslavskys Qualität als unsentimentaler Analytiker einer grausamen Welt.
Bis zu seinem überraschenden Tod 2010 arbeitete er mit dem kritischen russischen Soziologen und Meinungsforscher Lev Gudkov an einer empirisch fundierten Analyse des postkommunistischen Übergangs, das nun unter dem schlichten Titel „Russland“ auf Deutsch erschienen ist. Wer wissen will, was in Russland wirklich los ist, muss es gelesen haben.
Der schmale Band überzeugt durch Übersichtlichkeit und seinen unaufgeregten Argumentationsstil. Kein Satz ist überflüssig; man muss sich nicht durch eine Suada von gesellschaftswissenschaftlicher Antragsrhetorik durcharbeiten, um zum Wesentlichen zu kommen, der gesellschaftlichen Logik des postkommunistischen Übergangs in Russland. Souverän werden Vergleiche mit anderen postkommunistischen Übergängen, aber auch Transformationen anderer autoritärer Systeme etwa Spaniens und Südkoreas angestellt.
Auch über Deutschland kann man dabei etwas lernen; denn bis heute wirkt das Hervorgehen zweier deutscher Gesellschaften aus dem Nationalsozialismus im nach 1990 vereinigten Deutschland nach, ohne wirklich begriffen worden zu sein.
Schnell wird deutlich, dass Russlands Weg ein besonderer war und ist. Russland war seit 1917 das Zentrum einer spezifischen Sowjetzivilisation, die den Homo sovieticus hervorgebracht hat, den der Dissident Alexander Sinjawski charakterisiert und dessen Soviet Way of Life der russische Soziologenpionier Juri Lewada empirisch untersucht hat. Die in der Sowjetzeit entstandene spezifische Untertanenmentalität lebt weiter und bildet die Basis populistischer Erfolgsstrategien der Silowiki, die durch Jelzin und mit Putin an die Macht kamen. „Lupenreine Demokraten“ sind diese aus den Sicherheitsapparaten hervorgegangenen „Uniformträger“ keineswegs, sondern pragmatische Machtmenschen, die der imperialen Größe der alten Sowjetmacht nicht nur nachtrauern, sondern sie in russischer Gestalt wieder neu erstehen lassen wollen. Der endlose Tschetschenienkrieg ermöglichte ihren Aufstieg, ist aber zugleich ihr Menetekel.
Rohstoffreichtum, besonders Öl, ist gefährlich für die Demokratie – von Iran bis Nigeria kann man ein Lied davon singen. Auch die ineffektive Staatsbürokratie des Realsozialismus hielt sich an der Macht als ein Moloch, der den gesellschaftlichen Reichtum zu verteilen hatte; der Homo sovieticus fühlte sich durch die ungewissen Besitzverhältnisse des „Volkseigentums“ legitimiert zu stehlen, wo er konnte. Nach der Implosion des Staatssozialismus brach ein innergesellschaftlicher Krieg aller gegen alle um die Beute aus. Ein Typ von „Gewaltunternehmer“ (Wadim Wolkow) erschien auf dem neuen Markt; doch im Hintergrund transformierten sich junge aufstiegsorientierte Komsomolzen in Oligarchen, die spektakuläre Reichtümer anhäuften wie zu Zeiten der Robber Barons.
Doch den stabilen Kern des Übergangs bildete die alte Nomenklatura der zweiten und dritten Reihe, gut vernetzt und mit guten Beziehungen. Um sie zu gewinnen, ihnen Zugriff auf Vermögen zu verschaffen, organisierte Putin nach der Phase einer neuen ursprünglichen postkommunistischen Akkumulation eine zweite Umverteilung, deren exemplarisches Opfer der Magnat Chodorkowski ist.
Die weitsichtigsten Oligarchen waren nämlich auf die Idee gekommen, dass sie im Kampf gegen den überdimensionierten autoritären Staat nur mithilfe einer demokratischen Öffentlichkeit Sicherheit bekommen könnten. Die Silowiki hassen aber Öffentlichkeit; Einschüchterung und Mord an Journalisten ist eine ihrer Macht sichernden Hauptbeschäftigungen.
Es gibt nicht nur eine Anna Politkowskaja. Kritische Journalisten werden von gelenkten Medien zu den Tod verdienenden Nestbeschmutzern gemacht, Oligarchen sind den Verlierern der Umverteilung eher verdächtig als die alten und neuen „Uniformträger“.
Bei den einen weiß man nicht, wie sie zu ihrem neuen Reichtum gekommen sind, bei den bürokratischen Machthabern weiß es der überlebende Homo sovieticus und witzelt: „Sie wollen verdienen wie Abramowitsch, leben wie in Europa, aber regieren wie zur Zeit Stalins.“
Das Buch
Lev Gudkov, Victor Zaslavsky: „Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?“ Aus dem Italienischen von Rita Seuß. Wagenbach Verlag, Berlin 2011, 206 Seiten, 19,90 Euro