„Wer Afghanistan befrieden will“, sagt Omar Sharif, „kann das von den
Tschadschiken lernen, die ihr Land nach dem fünfjährigen Bürgerkrieg
wieder schnell stabilisiert haben.“ Maskierte Trupps haben die Kriegsverbrecher verhaftet, gefesselt und dann in den Grenzfluss Amudarja zwischen Afghanistan und Tschadschikistan geworfen. Der Tschadschike Sharif, im Bürgerkrieg Mitstreiter des Nordallianz-Generals Massud, ist als General und Chef des afghanischen Geheimdienstes im Norden von Afghanistan Partner der deutschen Bundeswehr. Die damaligen Opfer waren wie heute paschtunische Stammesführer, die von hochrangigen Tschadschiken und Usbeken als Taliban denunziert werden.
Immer noch schwelt der Bürgerkrieg zwischen den großen fünf Volksgruppen, Paschtunen, Tschadschiken, Usbeken und Harzaras, subkutan weiter. In jeder dieser großen Volksgruppen gibt es Täter und Opfer zugleich. Im Norden, dem Gebiet, das die Bundeswehr schützen soll, wurden hochrangige Paschtunen umgebracht, hauptsächlich Landbesitzer enteignet werden sollten. Das letzte der 24 Opfer war ein Lehrer. Der Mörder wurde von der afghanischen Polizei gefasst. Er gehörte zum afghanischen Geheimdienst und musste wieder frei gelassen werden. In diesem schmutzigen, regellosen Krieg sind die Bundeswehr und ihre staatsgläubigen Offiziere mental überfordert und nicht für einen Guerilla-Krieg ausgebildet. Sie können nie genau wissen, von wem sie nachts tatsächlich beschossen werden. Sind es Taliban oder Drogenbanden, deren Transportrouten nach Norden durch die Straßensperren unterbrochen werden. Es könnten jedoch auch Milizen des Gouverneurs sein. Die Bundeswehr wird immer tief in den Morast dieses US-amerikanischen Krieges hineingezogen. Die Substanz des UNO-Mandats, das den deutschen Einsatz legalisieren soll, ist längst ausgehöhlt.
Junge Deutsche kämpfen längst nicht mehr nur gegen jene Taliban, die von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan Mitte der 90er Jahre aus den Koran-Schulen rekrutiert wurden. Sie erhielten den Auftrag, der von einem US-amerikanisch-saudi-arabischen Konsortium projektierten Öl-Pipeline den Weg aus dem Süden nach Zentralasien zu bahnen. Die Pipeline sollte von Tschadschikistan mitten durch Afghanistan nach Pakistan führen. Heute kämpfen die Paschtunen im Süden in erster Linie gegen die willkürliche, künstliche Teilung ihrer Heimat durch die afghanisch-pakistanische Grenze.
Nichts von den offiziellen Argumentationen ist mehr stimmig. Die Rechtfertigung, für Demokratie und Menschenrechte zu kämpfen, ist vorgeschoben. Afghanistan ist zerrissener denn je und nicht durch eine gewalttätige Intervention ausländischer Truppen zu befrieden.
Diese afghanische Realität kommt in der typisch deutschen Diskussion neben Themen wie dem Bombenangriff auf Menschen in Kundus nicht vor. Es fehlt auch jede Empathie mit den verbrannten Opfern. Kalt, technokratisch und klein-kariert wird partiisch über Rechtsfragen und eine zweifellos desaströse Informationspolitik gestritten. Spricht man über die Opfer, dann nur unter dem Aspekt, wie hoch die Zahl der zivilen Toten war und wer zu den bewaffneten Aufständischen gehörte, denn nur eine große Zahl von Bewaffneten könnte den Bombenterror juristisch begründen, keineswegs aber moralisch. Es ist ein Verrat an unseren Werten. Dass ein afghanischer Mann ein Gewehr trägt, bedeutet in diesem Teil des Landes noch lange nicht, dass er auch schießt. Denn ein afghanisches Sprichwort lautet: „Ohne seine Waffe ist der Paschtune nackt.“
Nach UNO-Angaben gibt es in Afghanistan circa 200.000 aktive Kämpfer, die fälschlicherweise alle Taliban („Koran-Schüler“) genannt werden. Sie sind in circa 2.400 verschiedene Gruppen islamistischer und nationalistischer Paschtunen, lokaler Milizen, der Drogenhändler (im Norden oft in staatlicher Funktion), Anti-Zentralisten oder bewaffneter Zedernholzschmuggler organisiert.
In allen Kulturen der Welt, selbst in den archaischen, ist es verboten, Menschen zu verletzen oder gar umzubringen (außer in Notfallsituationen). Menschen zu verbrennen ist eine bestialische Art zu töten. Barbarisch ist deshalb auch der Subtext in der deutschen Diskussion. Aus ihm hört man eindeutig die Botschaft: „Taliban darf man abfackeln.“ Das markiert den ethischen Tiefpunkt im politischen Diskurs seit Gründung der Bundesrepublik. Haben die jungen, zweifellos verblendeten afghanischen Kämpfer, gleichgültig, zu welcher Gruppierung sie gehören, etwa kein Lebensrecht? Wie hätten wir heute darüber geurteilt, wenn die Allierten kurz vor Kriegsende alle fanatischen Hitlerjungen umgebracht hätten? Jeder Kriegstote ist unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit eine humanitäre Katastrophe. Dass dies von unseren Politikern aller Parteien nicht mehr so gesehen wird, ist ein untrügliches Zeichen für die negativen Rückwirkungen des Krieges auf unsere Gesellschaft. Die moralischen Maßstäbe und juristischen Regeln verlieren auch im Inland ihre Bindungskraft. Wer nach den Untaten der afghanischen Aufständischen und Kriminellen fragt, dem muss man antworten: Die Schuld der Anderen relativiert keinesfalls die eigene Schuld. Wenn man für Werte einsteht, welche man selbst nicht einhält, ist die Aufgabe gescheitert.
Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ist nur noch blutiger Betrug.
© Hans Wallow, 01.01.2010