Seit Montag halten wir den Hörsaal 1 der Universität Lüneburg besetzt. Wir nutzen nun diesen Hörsaal um uns untereinander auszutauschen, Meinungen aufnehmen zu können und über diese gemeinsam zu diskutieren. Uns allen geht es als „BesetzerInnen“ dieses Hörsaals darum einen Raum zu schaffen, der ansonsten unserer Meinung nach in der derzeitigen Insititution Universität nicht mehr existiert: Einen Raum, in dem wir alle miteinander diskutieren können, der offen ist für unsere Anliegen und Ideen und in dem diese auch ernst genommen werden. Wir haben uns mit dieser Besetzung auch die Zeit genommen, die wir dafür brauchen. Diese haben wir alle in unseren derzeitigen Studien nicht mehr.
In den vergangenen vier Tagen haben wir in diesem temporären Freiraum viele Begegnungen erlebt. Dozierende, Studierende, MitarbeiterInnen und andere Menschen haben uns hier besucht: Sie haben sich solidarisch erklärt oder uns kritisiert. Viele sind gekommen, gegangen und geblieben. Doch alle haben sie sich an einem Prozess beteiligt: Dem Prozess der Meinungsbildung.
Warum sind wir hier? Welche Beweggründe führen uns Menschen unterschiedlichster Couleur dazu, gemeinsam einen Freiraum zu nutzen und ihn zu erhalten?
Nach all dieser Zeit und nach all diesen vielen Diskussionen und der Selbstbildung können wir nun für uns und hoffentlich auch für euch erklären, wie wir diese Fragen beantworten können und wollen: Wir TeilnehmerInnen haben unterschiedlichste Gründe an diesem Protest teilzunehmen. Wir sind uns aber alle einig, dass uns eine Menge an dem Thema Bildungspolitik in Deutschland stört und wir diesen Protest brauchen und durchführen wollen. Wir haben gemeinsam entschieden unseren Protest in den Kontext des bundesweiten Bildungsstreiks zu stellen. Doch was bedeutet für uns eigentlich die Begrifflichkeit „Bildungsstreik“ und was vereint uns im derzeitigen Protest?
Wir erkennen aus unseren Diskussionen, dass wir alle in einer Gesellschaft leben, die durch die Individualisierung der Lebensführung und die Pluralisierung von Lebenswelten geprägt ist. Genauso unterschiedlich ist unser aller Auffassung von einem guten Bildungssystem. Wir alle merken, dass mit diesem System einiges nicht stimmen kann. Dies betrifft nicht nur den akademischen Bereich, sondern gleichermaßen alle anderen Bildungseinrichtungen, wie Schulen und Kitas. Daher legen wir bei unseren Überlegungen Wert darauf, dass all diese Ebenen integriert betrachtet werden müssen. Gerade in diesem Protest ist eine Kooperation aller notwendig, die sich hiermit zur regen Beteiligung ermuntert fühlen sollen. In diesem Zusammenhang sind wir uns einig, dass der Zugang zu Bildung nicht von Herkunft, finanziellen Möglichkeiten, sozialem Hintergrund oder Geschlecht abhängen darf. Diese und andere gesellschaftlich definierte Kategorien führen oft zu Abgrenzung und Diskriminierung, was wir nicht akzeptieren.
Als Studierende bekommen wir die deutlich gestiegene Einflussnahme der Wirtschaft auf die Gestaltung unserer Studiengänge immer mehr zu spüren. Aus unserer Sicht werden die Forderungen nach Kreativität, Gestaltung und Problemlösungskompetenzen, sowie sozialen Kompetenzen beispielsweise Team und Kritikfähigkeit immer lauter und der damit verbundene Druck steigt. Doch wer definiert, welche Kompetenzen wichtig sind? Das sollte jeder Mensch selbst entscheiden können. Dafür fehlen durch die Veränderungen der Studienbedingungen in den letzten Jahren Raum und Zeit.
Viele von uns finden die Grundideen von Bologna und die hiermit angedachten Studienbedingungen in groben Zügen gut. Wir wünschen uns eine „Harmonisierung“ der Rahmenbedingungen, wie sie in der Erklärung von Sorbonne 1998 kommuniziert wurde. Kurz nach dieser Erklärung folgte die Einleitung des Bologna-Prozesses, doch können wir seitdem keine erfolgreiche Umsetzung dessen feststellen. Die Anerkennung von Hochschulabschlüssen funktioniert immer noch nicht auf internationaler Ebene, die gestiegene Flexibilität von Studiengängen ist nicht erkennbar, eher im Gegenteil. Viele Forderungen und Ideen des Bologna-Prozesses scheinen aus unserer Sicht seit nunmehr knapp zehn Jahren nicht umgesetzt. Das einzige was für uns bleibt, ist eine Umstellung auf ein Studiensystem, welches nach wie vor umstritten und nicht ausgereift ist.
Momentan sind unsere Studienstrukturen in den Bachelorund Masterstudiengängen sehr verschult. Es gibt kaum Wahlmöglichkeiten. Ausnahmen bestätigen hierbei die Regel und Studierende sehen sich damit konfrontiert, stark überladene Studien und Modulpläne mit vollgestopften Prüfungsordnungen abzuarbeiten. Mit Abschluss des Bachelors hat man in den meisten Fällen drei Jahre Studium hinter sich gebracht. Wenn man sich nun einen guten Notendurchschnitt erarbeitet hat, kann man auf einen Platz in einem der Masterstudiengänge hoffen. Wenn nicht, bleibt die Frage offen, was man mit dem Bachelorabschluss anfangen kann.
In den letzten Wochen können wir in ganz Europa erleben, wie Studierende auf diese misslungenen Reformen reagieren. Die Besetzungen und Demonstrationen sind Ausdruck der viel geteilten Unzufriedenheit und wir fordern deswegen eine weitergehene Diskussion über die vorherrschende Bildungslandsschaft. Sie muss mit allen Menschen gemeinsam geführt und ergebnisoffen verfogt werden. Diese erste Erklärung aus dem Hörsaal 1 der Universität Lüneburg soll gleichzeitig ein Beitrag als auch ein Aufruf zu dieser Diskussion sein.
Wir als Plenum wissen, dass wir weder alle Meinungen und unterschiedlichsten Beweggründe in dieser Erklärung wiedergeben können noch dass diese Erkläung ein Recht auf Allgemeingültigkeit bzw. Vollständigkeit besitzt, doch wissen wir auch, dass wir diese in den nächsten Tagen weiterhin gemeinsam diskutieren, verändern und erweitern können und werden. Hierbei ist weiterhin jede Meinung wichtig.
Einzelne Studiengänge, wie die Lehramtsstudierenden, erarbeiten derzeit in Hörsaal 1 konkrete Forderungen zur Verbesserung ihrer spezifischen Lernbedingungen. Anlässlich einer fokussierten Weiterentwicklung der Leuphana Universität erarbeiten wir auch eine Stellungnahme zu einem diesbzüglichen Hypohesenpapier des Präsidiums. Wir haben gemeinsam entschieden, diese und weitere Themen in Arbeitsgruppen zu erarbeiten.
Parallel dazu finden täglich zwei Plena statt, in denen die Ergebnisse diskutiert werden, die sich auch in diesem Papier widerspiegeln. Arbeitsgruppen stehen allen offen, werden weiterentwickelt und neu gegründet.
Folgende Themenkomplexe stehen zur Zeit im Raum und bedürfen bevor einer näheren Auseinandersetzung. Die Frage der Notwendigkeit und Verwendung von Studiengebühren wird kontrovers diskutiert, wobei sich festhalten lässt, dass die derzeitige Situation nicht tragbar ist. Besonders intensive und vielschichtige Diskussionen widmen sich der Frage nach einem Zusammenhang von Bildungsmisstand und Gesllschaftssystem sowie einer möglichen implizierten ökonomischen Verwertungslogik. Daraufhin hat sich spontan die AG „Bildungsfrage = Systemfrage“ gegründet. In dieser und allen anderen AGs können in den nächsten Tagen konkrete Forderungen entstehen. Der momentane Arbeitsstand kann jederzeit und von allen über unsere Kommunikationskanäle, besonders das wiki eingesehen und mitgestaltet werden.