Sven Giegold mag es gern plastisch. Das prominenteste Gesicht der deutschen Sektion von Attac zeigt auf eine große, weiße Schüssel Reis, die eine junge Kellnerin gerade auf den Tisch gestellt hat. „Das ist der klitzekleine Unterschied“, sagt Giegold. Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens wollten jedem die gleiche Portion Reis zuteilen. Anhänger öffentlicher Güter und Grundsicherung forderten, dass demokratisch entschieden wird, wie viel und wofür Reis aus der großen Schüssel genommen wird. Ein klitzekleiner Unterschied und nicht der einzige, der in der deutschen Linken tiefe Gräben aufreißt, was in der jüngeren Vergangenheit eine Zusammenarbeit oft verhindert hat.
Es ist eine illustre Runde, die sich Ende Februar in einem Chinarestaurant mitten im Frankfurter Bankenviertel trifft: Giegold gegenüber sitzt Axel Gentke, im IG-Metall-Vorstand zuständig für Sozialpolitik. Neben ihm: Berit Schröder von der Interventionistischen Linken (IL), einem erst vor zwei Jahren gegründeten Zusammenschluss linksradikaler Gruppen und Aktivisten. Eine Vertreterin von der Initiative „Kein Mensch ist illegal“ hört den Schilderungen des Attac-Vordenkers ebenfalls zu. Globalisierungskritiker von Attac, Linksradikale und Gewerkschafter gemeinsam an einem Mittagstisch – eine ungewöhnliche Kombination: „Wir erleben eine neue Qualität der Zusammenarbeit“, sagt Giegold. Was sie aktuell zusammenbringt? Der G8-Gipfel in Heiligendamm.
Ziviler Ungehorsam strittig
So schwierig es für die Diplomaten ist, sich auf eine Tagesordnung für den offiziellen G-8-Gipfel zu einigen, so mühsam ist es auch für die Gegenseite, sich auf einen gemeinsamen Protestfahrplan zu einigen. Doch seit zwei Jahren sind bundesweit hunderte von AktivistInnen, VertreterInnen von Umwelt- und entwicklungspolitischen Initiativen und Sozialverbänden mit nichts anderem beschäftigt als der Vorbereitung der Proteste gegen den Gipfel der mächtigsten Regierungschefs. Bewegungsintern kam bereits die Kritik auf, dass sonstige Aktivitäten darüber brachlägen. Doch der frühe Vorlauf scheint sich auszuzahlen. Die AktivistInnen sind schneller als die Regierungsvertreter mit ihren Vorbereitungen. Der Protestfahrplan steht.
Auftakt ist eine gemeinsame Großdemonstration aller Organisationen in Rostock am Wochenende zuvor, an der sich neben Autonomen selbst christliche Gruppen beteiligen wollen. Zeitgleich mit dem offiziellen Gipfel wird es einen Gegenkongress geben, eine migrationspolitische Demo ist geplant und ein „Aktionstag zu Fragen der Landwirtschaft im Süden“. Daneben soll es viele weitere Aktionen geben, die Krieg, Flucht, Rassismus, Kolonialismus, Klimawandel, Gentechnik und soziale Rechte zum Thema haben. Strittig waren bis vor kurzem vor allem die geplanten Blockaden der Linksradikalen zu Beginn des Gipfels auf den Zufahrtstraßen der Regierungschefs nach Heiligendamm. Doch auch in diesem Punkt haben sich die unterschiedlichen Akteure auf „Aktionen des zivilen Ungehorsams“ geeinigt. Nun gehört selbst die Grüne Jugend zu den Unterzeichnern des Blockadeaufrufs. Das für die bundesrepublikanische Linke in den vergangenen 20 Jahren schier Unerreichbare wird möglich: Alles läuft unter einem Dach.
Dem ging eine mühselige Koordinierungsarbeit in einer kaum zu überblickenden Szene voraus. Allein aufseiten der außerparlamentarischen Linken gibt es neben der IL ein sogenanntes Dissent-Network vor allem anarchistischer und autonomer Gruppen, dann die Euromärsche, die Sozialforen und natürlich Attac, das sich ebenfalls mehr als Netzwerk versteht denn als eigenständige Organisation. Die vielen lokalen G-8-Netzwerke sind noch nicht mit gerechnet und die europäische Koordinierung auch nicht.
„Die bundesweite Vernetzung hat viel Arbeit gekostet“, sagt Berit Schröder von der IL. Worauf man sich nun stärker konzentrieren müsse, sei die lokale Verankerung des Protests. Damit spricht sie ein grundsätzliches Problem bei großen Mobilisierungen an: Viele Kapazitäten werden für die Vernetzungsarbeit verbraucht. „Aber wer organisiert Diskussionsveranstaltungen, verknüpft die G-8-Mobilisierung mit sozialen Kämpfen vor Ort oder besorgt die vielen Busse nach Heiligendamm?“ Dazu sei es jedoch nicht zu spät. Für sich selbst hat sie beschlossen, beim Networking kürzerzutreten. Lokalarbeit ist nun wichtiger, sagt die 32-Jährige. „Nur so werden wir auch viele.“
Gewerkschaften nicht im Boot
Dieses „Viele“ ist relativ. Von 100.000 hatte Pedram Shahyar vor einem Jahr noch gesprochen. Er sitzt im Koordinierungskreis, dem höchsten Entscheidungsgremium von Attac, und wurde vor einem Jahr von der Linksfraktion im Bundestag eingestellt – als G-8-Beauftragter. Würde der Gipfel in einem kleinen Ort in Westdeutschland abgehalten, sei eine sechsstellige Zahl von Gegendemonstranten durchaus möglich, sagt Shahyar. „Das Interesse in vielen Städten ist enorm.“ In Ostdeutschland sei außerparlamentarischer Protest jedoch anders verankert. Wie viele Leute wirklich den Weg nach Heiligendamm auf sich nehmen, kann er daher nur schwer einschätzen. „Bei unter 10.000 hat Attac ein Problem“, sagt Giegold.
Die Gewerkschaften sitzen nicht mit im Boot. Zumindest nicht die Gewerkschaftsspitze. Zwar gebe es viele Regionalgruppen gerade aus der Gewerkschaftsjugend, die mit den Forderungen nach globalen sozialen Rechten einen unmittelbaren Bezug zum Stellenabbau bei Bayer-Schering, Airbus und Volkswagen ziehen, sagt Horst Schmitthenner, gewerkschaftlicher Kontaktmann zu den sozialen Bewegungen. Und auf dem G-8-Gegengipfel in Rostock wollen die Gewerkschaften ebenfalls mit Delegationen vertreten sein. „Busse wird es von uns jedoch nicht geben“, sagt der ehemalige IG-Metall-Vorstand. Im obersten Stockwerk der Gewerkschaftszentrale mit Blick auf den Taunus schildert der „Bewegungsbeauftragte“, wie die Gemengelage bei den Gewerkschaften derzeit aussieht. Noch immer sei bei vielen Mitgliedern die Anbindung an die SPD eng, der Umgang mit den sozialen Bewegungen dagegen noch fremd. „Grundsätzlich können wir alles unterschreiben, was Attac auch fordert.“ Aber noch sei die Forderung der Globalisierungskritiker „nach globalen sozialen Rechten“ zu allgemein gehalten. „Für unsere Basis brauchen wir reale Anknüpfungspunkte.“
Damit haben es die Umweltinitiativen leichter. „Schon jetzt ist klar, dass die Klimazerstörung eins der großen Themen beim G-8-Gipfel sein wird“, sagt Energieexperte und Kampagnenmacher Jörg Feddern von Greenpeace. „Wir werden auf Protestseite ganz groß mit dabei sein.“ Ein Attac-Aktivist oder auch die radikale Linke hätten es in ihren Pamphleten nicht anders formuliert als die Umweltorganisation: „Als selbsternannte Weltregierung“ entschieden die G-8-Chefs „über Zukunftsfragen für die gesamte Menschheit“, heißt es im Protestaufruf von Greenpeace. Die Umweltschützer haben mehr als den Ökoaspekt im Blick: „Längst handelt es sich bei den Flüchtlingen aus Afrika um Klimaflüchtlinge“, sagt Federn. „Ausgerechnet die größten Verursacher des Klimawandels weisen diese Flüchtlinge zurück.“
An konkreten Anknüpfungspunkten mangelt es den Umweltschützern nicht. Ihr Problem ist ihre Mobilisierungsschwäche. So spektakulär die Greenpeace-Kampagnen gegen Ölplattformen, Castor-Transporte und Walfänger in der Vergangenheit waren, eine breite Bewegung hat die Organisation in puncto G 8 nicht hinter sich. 2.000 ehrenamtliche Aktivisten, schätzt Federn, könne Greenpeace mobilisieren, überhaupt nicht vergleichbar mit der halben Million Mitglieder, die allein in Deutschland regelmäßig für Greenpeace spenden.
Millionen werden zwar auch Attac oder die IL nicht auf die Straße bringen. Von ihnen wird jedoch abhängen, welche Bilder von den Protesten über den Globus flimmern werden. Ein langjähriger Frankfurter Aktivist sieht die außerparlamentarische Linke als eigentlichen Gewinner der Proteste. Mit 20.000 rechnet er. Was jedoch viel wesentlicher sei: die Binnenwirkung. In seiner mehr als 30-jährigen außerparlamentarischen Tätigkeit erlebe er nun erstmals, wie Linksradikale über ihre eigenen Kreise hinaus wieder bündnisfähig werden. Attac habe es in den vergangenen Jahren mit einer undogmatischen und pragmatischen Art vorgemacht. Nun sei die Scheu vor dem Bürgertum auch bei den Linksradikalen gefallen. „Das hat es seit den 68ern nicht mehr gegeben.“
© Das Interview wurde in der TAZ vom 13. März 2007 veröffentlicht