Die Europäische Union steckt seit ihrem Irak-Debakel und der gescheiterten Verfassung in einer so tiefen Krise wie nie zuvor. Als ihre Politik vor über einem halben Jahrhundert begann, war die Europäische Gemeinschaft klein und übersichtlich. Ihre Mitgliedsstaaten wollten stabile Sicherheit untereinander, Schutz vor der Gefahr im Osten, Selbstbehauptung gegenüber der amerikanischen Supermacht im Westen. Und: Der Wohlstand sollte gemehrt werden, indem die nationalstaatlichen Hindernisse beseitigt werden.
Heute herrscht in Europa Sicherheit, der Feind im Osten ist verschwunden, und die USA schwächeln. Das Streben nach Wohlstandsmehrung aber führte zu einer europäischen Politik, die bis heute immer komplizierter und diffuser wird. Der Abstand zwischen der Institution EU und den Bürgern Europas ist immer größer geworden. Zu Recht folgerte daher der Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, in seinem Buch zur europäischen Krise: „Die europäische Einigung muss ein kulturelles Projekt werden. Das kann nur geschehen, wenn die europäische Einigung als Teil der europäischen kulturellen Entwicklung verstanden wird.“ Schade nur, dass er nicht ein wenig präziser und zutreffender „gesellschaftlich“ statt „kulturell“ geschrieben hat.
Denn das Projekt EU wird nur lebensfähig bleiben können, wenn die europäische Politik nicht mehr nur eine Politik der Nationalstaaten und ihrer Repräsentanten sein wird, sondern eine Politik von unten, die von den Gesellschaften der europäischen Staaten getragen wird. Schon 1950 hatte der französische Außenminister Robert Schuman in seiner Gründungserklärung zum Beginn der heutigen europäischen Zusammenarbeit eine „europäische Solidarität der Tat“ gefordert. Sie fehlt bis heute. Insbesondere hat die bisherige Europapolitik bei der Aufgabe versagt, gegenüber den neuen Herausforderungen wie Globalisierung, Klima oder neuer Weltordnung à la USA ein solidarisches europäisches Denken und Handeln zu erreichen.
Das ist auch der im Vergleich mit dem gängigen europapolitischen Diskurs unkonventionelle und dadurch besonders interessante Ausgangpunkt des von Attac Österreich herausgegebenen „kritischen EU-Buchs“. Zu ihm haben 25 AutorInnen 21 Beiträge beigesteuert, in denen alle Felder der EU-Politik präzise, sachlich und detailgenau analysiert werden. Die meisten Beiträge wurden eigens für diesen Band verfasst und sind gut aufeinander abgestimmt. Die gemeinsame analytische Linie der AutorInnen ist in einem der Beiträge so umrissen:
„Die EU war und ist mit großen Hoffnungen verbunden: Frieden in Europa, Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Beschäftigungs-Union, Sozial-Union, Umwelt-Union, Friedens-Union. In diesen Bereichen birgt die EU große Chancen. Aber leider wird immer deutlicher, dass diese Chancen nicht genutzt werden und die EU einen starken Trend zur reinen Freihandelszone hat. Der Binnenmarkt steht im Mittelpunkt, Wettbewerb, Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung werden in vielen Bereichen nicht nur als alleinige Mittel, sondern sogar als die eigentlichen Zielen angesehen. Dahinter steht eine Ideologie: Neoliberalismus. Die Kernthese neoliberaler Politik ist, dass der freie Markt zu Wohlstand für alle führt und der Staat und öffentliche Regulierungen Schaden anrichten. Der Schlachtruf lautet daher: Rückdrängung des Staates durch Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung.“
Kenner der Analysen, Argumentationen und Aktionen von Attac finden sich in dem Buch auf vertrautem Terrain. Anderen Lesern dürfte sich manche neue europapolitische Perspektive eröffnen. So etwa, wenn zu der nicht gerade bürgerorientierten europäischen Verkehrspolitik erläutern wird: Die ihr zu dankenden langstreckigen Schnellverbindungen passieren auf Schienen und Straßen zwar viele Staatsgrenzen, nicht aber die Grenzen der Aktionsbereiche der großen Konzerne. Die Gesamtbeurteilung der Lage durch das für den Band verantwortlich zeichnende Herausgeberteam ist lapidar:
„Nicht die soziale Sicherheit, sondern die ,Wettbewerbsfähigkeit‘ ist zum zentralen Leitwert Europas geworden. Soziale Sicherheit, Umweltschutz oder Demokratie erscheinen vielmehr als Hindernisse derselben. Wir erleben das Paradox, dass wir Wohlstand und Sicherheit zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit aufgeben, damit diese uns mehr Wohlstand und Sicherheit bringe. Das Ergebnis ist trist: Ein immer reicher werdendes Europa kann sich Umverteilung, Steuergerechtigkeit, soziale Sicherheit, Armutsbekämpfung, öffentliche Investitionen und Umweltschutz – angeblich – nicht mehr leisten. [] Allerdings ist nicht primär die EU an all diesen Entwicklungen schuld. Es sind die nationalen Regierungen, die neoliberale Projekte, welche ,zu Hause‘ nicht durchsetzbar wären, bevorzugt über Brüssel ,spielen‘. Sie formen die EU zu einem neoliberalen und undemokratischen Projekt – anstatt die Idee vom friedlichen und sozialen Europa zu verwirklichen.“
Ein wichtiges Buch zum richtigen Zeitpunkt, dem man – nicht zuletzt im Sinne des zitierten europäischen Gründungsvaters Robert Schuman – breite Resonanz wünschen möchte.
© 26.04.2006 – Der Artikel ist in der TAZ vom 22.-23.04.2006 erschienen
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Das Buch
Attac (Hg.): Das kritische EU-Buch. Warum
wir ein anderes Europa brauchen. Deuticke
Verlag, Wien 2006, 318 Seiten, 19,90 Eu
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Der Autor
Dr. Hans Arnold gehörte bis 1987 dem Auswärtigen Dienst an. Er war anfangs an den deutschen Botschaften in Paris und Washington tätig und leitete 1966 bis 1968 das persönliche Büro von Willy Brandt. Ab 1968 bis 1972 war Arnold Botschafter in Den Haag und ab 1977 für vier Jahre Diplomat in Rom. Zwischen 1982 und 1986 vertrat er die Bundesrepublik bei der NATO und weiteren internationalen Organisationen in Genf. Heute ist Hans Arnold als Publizist und Lehrbeauftragter der Hochschule für Politik in München tätig. Neben zahlreichen Büchern veröffentlicht er regelmäßig in überregionalen Tageszeitungen (u.a. Taz) und politischen Magazinen.