2. Mai 2007 | Parteidemokratie

Anatomie der verlorenen Sozialdemokratie

von Hans Wallow. Bonn


„Mehr Demokratie wagen“ mahnte eins Willy Brandt. Von innerparteilicher Demokratie und sozialdemokratische Werte halten seine Enkel wenig. Ihr autokratischer Führungsstil führte zum Austritt von fast 500.000 Mitgliedern. Ein langjähriges Mitglied des Bundestages analysiert wie sich die SPD zu einer weiteren konservativen Partei mauserte.

Lesezeit 9 Minuten

„Wenn die neuesten SPD-Katastrophenmeldungen über den Bildschirm flimmerten, dann habe ich die Glotze einfach ausgeschaltet“, sagte grimmig der erfolgreiche mittelständische Unternehmer und SPD-Ortsvereinsvorsitzende Dipl.-Volkswirt Winfried Glaser aus dem rheinland-pfälzischen Remagen-Oberwinter. Jetzt, wo sein Ministerpräsident und Landesvorsitzender Kurt Beck zum SPD-Bundesvorsitzenden ausgerufen wurde, schaltet er das Gerät schon wieder mal ein. Aber mit dem Start von „König Kurt“ ist er unzufrieden. Mit der Steuerdiskussion habe der sich doch schon gleich beim Start „verdribbelt“. Dies sei das richtige Thema, aber der falsche Zeitpunkt, sagt er und fügt hinzu: „Meine Partei und damit auch Kurt Beck waren doch dafür mitverantwortlich, dass die Konzerne jahrelang keine Steuern zahlten und Milliardenbeträge in Uraltbranchen sowie überflüssige Rüstungsprojekte versenkt wurden“. Trotz seiner unverkennbaren Skepsis hofft er darauf, dass sein Landesvater und zukünftiger Bundesvorsitzender die Kraft und den Mut aufbringt, in der Öffentlichkeit zunächst mal über die Tagespolitik hinaus wieder die richtigen Fragen zu stellen, um damit eine Debatte über Zukunftsfähigkeit Deutschlands anzustoßen. Im Kern geht es dem Ökonomen um einen Grundkonsens in der Arbeitsgesellschaft, die den Sozialstaat als ein wichtiges europäisches Kulturgut begreift. Dann guckt er schon wieder listig über das Bierglas hinweg und meint: „Wenn meine Mitarbeiter unsere Produkte nicht mehr kaufen können, dann kracht der ganze gewerbliche Mittelstand zusammen.“

Ob der rheinland-pfälzische Ministerpräsident der richtige Mann ist, den überfälligen gesellschaftlichen Dialog über die Rolle von Individuen, Staat, Parteien, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zu inspirieren, bleibt offen. Denn seit Willy Brandt sind fast alle sozialdemokratischen Vorsitzenden an ihrem autokratischen Führungsstil, häufig genährt von opportunistischen Einflüsterern und jenen Medien, die eine unzeitgemäße „Stärke“ einforderten, gescheitert. Politisch führen in der modernen Demokratie heißt vorauszudenken und durch persönliches Vorbild zu überzeugen. Die Zeit, in der August Bebel forderte, dass die Partei der Hammer in der Hand des Vorsitzenden sein müsse, ist endgültig vorbei. Hier lauern die größten Gefahren für den Aufsteiger aus der Gemeinde Steinfeld. Denn schon wieder stürmen die selbsternannten Vertrauten aus der SPD-Zentrale, der Bundestagsfraktion und der rheinland-pfälzischen Landesvertretung die Redaktionsstuben der politischen Korrespondenten in Berlin-Mitte, um ihren neuen Boss als „geduldigen“, „leutseligen“, „bodenständigen“, ja sogar „visionären“ „Volkspolitiker“ zu preisen. Sie unterschlagen dabei selbstverständlich nicht, wie stark sie den Aufstieg des zukünftigen Vorgesetzten mitgeprägt hätten. Kein Tag in Berlin vergeht, ohne dass diese Stichwortgeber versichern, nur der Kurt könne die zu lösenden Probleme „stemmen“. Erinnern wir uns: Dem „Münte-Mythos“ folgte ein „Platzeck-Aufbruch“. Auf den distanzierten Beobachter wirk es so, als ob hier nur die Fallhöhe für den 23. Vorsitzenden der 143 Jahre alten SPD angehoben wird. Viel ehrlicher und damit auch hilfreicher für ihn sind die Kolportagen von Genossen aus internen Sitzungen, in denen Kurt Beck mit bemerkenswertem Mangel an Gelassenheit Andersdenkende runterputzte. Diese Facette seines Charakters beschreibt die unter erheblichem Anpassungsdruck stehende rheinland-pfälzische Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles: „Richtig schwierig wird das mit dem Kurt Beck nur in zwei Fällen. Erstens, man ist anderer Meinung als er. Zweitens, der 1. FC Kaiserslautern verliert“. Sie bezeichnet ihn dann als einen „Buddha mit Sprengsatz“. Und der ehemalige Chefredakteur der Rhein-Zeitung aus Koblenz, Martin Lohmann, registrierte, dass der „begnadete Populist“ richtig „böse“ werden kann, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. „Dann ist zu erahnen, dass in seinem Inneren ein ungeduldiges Temperament regelrecht glüht und kocht“.

Becks angestrengte Rhetorik belegt, dass der jovial wirkende Landesvater anders als Helmut Kohl ein Dünnhäuter ist. Brachliegende Energien, gepaart mit Sensibilität, müssen für einen Parteiführer keine schlechten Eigenschaften sein, wenn es darum geht, Partei und Staat zu modernisieren und um die richtigen Lösungen zu kämpfen. – Progress begins at home oder anders ausgedrückt: Das schafft er aber nur mit und nicht gegen die politische Willensgemeinschaft SPD.

Seit Willy Brandt 1976 das einmillionste Mitglied, Karin Fahrenkamp aus der Eifel, ehrte, hat die SPD 400.317 Mitglieder verloren. Besonders dramatisch entwickelte sich die Abstimmung mit den Füßen in der Amtszeit von Gerhard Schröder als Bundeskanzler: Von Oktober 1998 bis zum April 2006 gaben 187.421 Mitglieder ihr Parteibuch zurück. Erschwerend ist die dramatische Überalterung. Der Anteil an jungen Mitgliedern sackte auf den Tiefstand von unter 10%. Eine intellektuell diskutierende Linke gibt es in der Partei nicht mehr. In Scharen liefen junge SPD-Mitglieder anfangs zu den „Grünen“, in jüngster Vergangenheit aus dem gewerkschaftlichen Kernmilieu der SPD in den westlichen Bundesländern zur Partei „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) über. Trotz des medialen Gegenwindes und der schlechten Prognosen der Parteienforscher ist aus dem „lächerlichen Spielchen“ (Münchener Merkur) ein Konkurrent geworden. Die daraus hervorgegangene strukturkonservative „Linkspartei“ etablierte sich auf Anhieb als drittstärkste Kraft im Bundestag. Auf die Konfrontation von Kurt Beck mit seinem ehemaligen Duzfreund Oskar Lafontaine darf man gespannt sein. Lafontaine ist gelernter Naturwissenschaftler und wird alles daran setzen, das politische inhaltliche Vakuum der SPD für die Linkspartei zu nutzen. Er wird nachweisen, dass die allein auf Wachstum fixierte Politik der beiden Volksparteien die seit 33 Jahren grassierende Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen kann. Die Zeit der sich gebetsmühlenartig wiederholenden Sprechblasenfestivals, nach denen sich der Aufschwung nun ankündige, dürfte vorbei sein.

Der Träger des alternativen Nobelpreises und SPD-Präside
Dr. Hermann Scheer, MdB, sieht als Ursache für den Niedergang den „Glaubwürdigkeitsverlust der SPD und einen eklatanten Mangel an innerparteilicher Demokratie“.

Ein weiteres Problem: Die großen Parteien sind heute parastaatliche bürokratische und unbewegliche Monsterorganisationen. Ihre Vertreter hocken meistens ohne Kontakt mit der Diskussion an der Basis in allen öffentlichrechtlichen Institutionen von der kommunalen Ebene über die Länder bis zum Bund. Vom Hausmeisterposten an den Schulen bis in die Vorstände der öffentlichrechtlichen Kreditinstitute werden alle Jobs in kleinen Zirkeln ausgemauschelt. Der spärliche Nachwuchs mit Parteibuch sichert sich schon im Studium über die Partei irgendeinen politischen Assistentenjob und steigt dann langsam im Netzwerk (früher: Filz) bis zu den Spitzenämtern hinauf. Die zwei ehemaligen Büroleiter, Außenminister Steinmeier und der Wahlverlierer von Nordrhein-Westfalen, Finanzminister Steinbrück sind nur zwei Beispiele von vielen. In den Parteien rangiert Wohlverhalten vor Qualifikation, Kreativität macht verdächtig. Stiller Bienenfleiß ist gefragt. Von diesen in den politbürokratischen Treibhäusern herangezüchteten Eigengewächsen ist, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, keine Zivilcourage zu erwarten. Die aber ist notwendig, da in einer gerechten Republik von allen gesellschaftlichen Schichten Opfer gebracht werden müssen. Eine auf das Reagieren abgemagerte Politik reicht nicht.

Die Fixierung der Medien auf die Bundespolitik in Berlin verstellt den Blick auf eine verheerende politische Gesamtbilanz der Partei in der Bundesrepublik. Tausende von SPD-Wahlkämpfern, die über Jahre für die Landtage und in der Kommunalpolitik gute Arbeit leisteten, wurden in zahlreichen Wahlen mit durchschnittlich 7% Verlust für eine Politik abgestraft, die sie nicht zu verantworten hatten. Der Sieg von Kurt Beck in Rheinland-Pfalz, das er als Ministerpräsident wie ein aufgeklärter mittlerer Unternehmer führt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die SPD-Ortsvereine dabei sind, geistig zu veröden. Selbst in den Hochburgen haben sich manche Ortsvereine von der Bundespolitik einfach abgekoppelt. Als gemeinsame Klammer existiert nur noch die Kommunalpolitik.

Für das Siechtum der SPD ist die sogenannte Enkelgeneration einschließlich Oskar Lafontaine gemeinsam verantwortlich. Statt eine redliche gesellschaftliche Bilanz nach der Regierung Kohl für die Öffentlichkeit zu ziehen, haben die Enkel Willy Brandts die ökonomischen Zeichen der Zeit verschlafen und die Sozialdemokratie als Spielwiese für ihre Diadochenkämpfe privatisiert. Ihr Hauptfehler war, die Partei nicht auf die neuen Realitäten durch die Globalisierung vorzubereiten und mit in die Verantwortung zu nehmen. Sie hätten bei Helmut Schmidt anknüpfen können; denn der ließ während seiner Kanzlerschaft bereits in den siebziger Jahren über das Bundespresseamt die Globalisierung erläutern. Slogan: „Hemden, die wir aus Indien kaufen, sichern den Absatz deutscher Textilmaschinen.“ Der damalige Entwicklungsminister und heute politische Autor Erhard Eppler forderte in einem Grundsatzreferat auf einem Kongress der IG Metall zum Thema Lebensqualität die Umstrukturierung der Wirtschaft auf qualitatives Wachstum. Er prägte schon damals den Begriff der Weltinnenpolitik, und inspirierte die IG Metall, mit deutschen Konzernen in deren Betrieben in Südafrika zu verabreden, dort keine Dumpinglöhne zu zahlen.

Aber der Enkel Schröder reagierte immer nur auf aktuelle Probleme und Machtkonstellationen mit einer auf reine Taktik fixierten Politik. In Berlin herrschte über Jahre der hektische Stillstand. Schröders Fehleinschätzung, dass mit Programmen keine Wahl zu gewinnen sei, rächte sich bitter. Die Partei blieb orientierungslos. Dabei sind die braven Sozialdemokraten recht leidensfähig. Ein Blick in die jüngere Parteigeschichte lehrt: Das ökonomische Auf und Ab und die meistens damit einhergehenden Parteikrisen hat es schon früher gegeben. Bereits 1973 haben der Vorsitzende Willy Brandt und sein Nachfolger Bundeskanzler Helmut Schmidt auf den Wirtschaftsabschwung mit einer Vorlage des Entwurfs für einen ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen professionell reagiert. Nach Vorstellung des Visionärs Brandt und des Ökonomen Schmidt sollte es in Deutschland erstmalig darum gehen, die politischen Grundüberzeugungen des Godesberger Programms mit durchgerechneten Möglichkeiten für acht Jahre zu verbinden. An der rationalen Diskussion über die Prioritäten und Details dieses Aktionsprogramms war die gesamte Partei beteiligt. So konnte unter der Einbeziehung der Basis manche Träumerei ausgeträumt werden. Außerdem war die klare unterscheidbare Zeitperspektive zwischen tagespolitischen Erfordernissen und Strategie etwas Neues in der gesamten politischen Landschaft. Vorausschauend wie der Patriarch Willy Brandt nun einmal war, forderte er im Vorwort: „Ein solcher Orientierungsrahmen wird dann ständig fortzuschreiben sein.“

Aber die Enkel wollten nichts daraus lernen, sie kannten ja die Gefahr eines offenen politischen Diskurs, dem sie den eigenen Machterwerb verdankten. – Die Regierung funktionierte folglich als Reparaturkolonne und kompensierte ihre Schwäche mit der Forderung nach einem Sitz im Weltsicherheitsrat. Die Wählerinnen und Wähler präsentierten dann bei den Wahlen die Rechnung. Heute löst eine biologische Verjüngung ohne einen veränderten Politikstil weder die Probleme der SPD noch die der anderen Parteien. Die jungen Eigengewächse aus dem Treibhaus der politischen Klasse sind schon früh auf den eigenen kleinen Vorteil sozialisiert und meistens abgeschliffen wie Kieselsteine im Bachbett. –

Progress begins at home. Die SPD muss sich, wie einst der Geheimniskrämer Herbert Wehner forderte, für Nichtmitglieder öffnen. Ohne kluge Köpfe aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, den Universitäten und der Wirtschaft, ist der Substanzverlust der politischen Klasse und der staatlichen Institutionen nicht zu stoppen.

Die Perspektiven sind düster. Nach einer Rechnung des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung steigen die Schulden des Bundes bis 2050 bei einem Rückgang der Bevölkerung um etwa 22 Millionen auf 292 Milliarden Euro. Das ist eine Steigerung von 457%. Aber schon heute lagern auf den privaten Konten 4.000 Milliarden Euro privates Geldvermögen ohne Immobilien. Gleichzeitig schwätzen auch Sozialdemokraten von „Wohltaten“, als sei der Sozialstaat nicht von allen, die Mehrwert erarbeiten, über Steuern und Sozialabgaben geschaffen worden. Vor knapp hundert Jahren schrieb der AEG-Erbe Walther Rathenau, die Wirtschaft sei „keine Sache von Privaten“. Aus dem kollektiven und historischen Charakter der gesellschaftlichen Arbeit in ihrer „unsichtbaren Verkettung“ leitet er die Forderung ab, die „verdienstlosen Massenerben“ zu enteignen. Ein Prozent von 4.000 Milliarden wären 40 Milliarden im Jahr. Eine sanfte Umverteilung, gemessen an den radikalen Vorstellungen von Walther Rathenau. – Kann man solche Gedanken in der Parteitagssprache von Kurt Beck erwarten?

Kluge Politik fängt damit an auszusprechen, was ist: Exportweltmeister Deutschland gehört zu den Globalisierungsgewinnern und der Staat lässt trotzdem ganze Milieus in die geistige und soziale Verelendung absinken. Der Perspektivlosigkeit tausender junger Menschen, die keinen Ausbildungsplatz finden, ist mit einer Ausbildungspflicht zu begegnen. Der Wissensvorsprung des Industriestandortes Deutschland schmilzt gegenüber den neuen aufsteigenden Industrienationen. Für ein Land ohne Rohstoffe ist es überlebensnotwendig, in die Intelligenz der Kinder zu investieren. Die Auseinandersetzungen um Rohstoffe und Energien der Welt haben bereits begonnen. Der Terrorismus ist eine der Folgen. Mit Eurofightern und Bomben sind diese Probleme nicht zu lösen. Statt das ewige politische Feindbild zu bemühen, muss Beck Klartext reden. Nur die nackte Wahrheit kann die SPD noch retten.

Die Folgen von Globalisierung, Infotechnologien, Wertewandel, Umweltzerstörung sind ohne den öffentlichen Dialog, die Beteiligung aktiver Bürgerinnen und Bürger nicht zu bewältigen. Die kommen aber nur noch, wenn neues Denken, Reden und Handeln sichtbar werden. Dazu sollte die SPD in der Zukunft auch als Projektplattform zur Verfügung stehen.

Ein kommender Jubelparteitag mit Geschlossenheitsritualen um den neuen Hoffnungsträger Kurt Beck wirkt dagegen wie ein alter, langweiliger Film. Die übliche virtuelle Realität, die vorgeblendete Medienwirklichkeit der Inszenierung eines solchen Parteitages entfremdet die Bürgerinnen und Bürger weiter von der SPD. Schafft sie es nicht, wird schon bald die Lösungskompetenz der demokratischen Parteien öffentlich diskutiert werden. Denn was kann man schon von den semantischen Tricks der CDU, die eine „neue Gerechtigkeit“ erfunden hat, erwarten? Den Gerechtigkeitssinn eines Walther Rathenau hat sie damit bestimmt nicht im Sinn.

© Hans Wallow, 02.05.2007

——————-

Der Autor

Hans Wallow ist ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages und Ehrenmitglied von Cultura21


Category:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert