28. Mai 2013 | Rezension

Die Kunst der Wahrnehmung

von Annette Grigoleit. Lüneburg


Nach 16 Jahren ist 2012 David Abrams „The Spell of the Sensous. Perception and Language in a More-Than-Human World“ in deutscher Übersetzung und zugleich als Auftaktpublikation der Verlagsedition thinkOya erschienen. Das Studium von David Abrams Buch hat mich vielschichtig begeistert und berührt. Im Folgenden möchte ich mich dem Entstehungszusammenhang für sein zentrales Forschungsinteresse, dem inhaltlichen Aufbau des Buches, seiner forschenden Haltung wie poetischen Erzählweise zuwenden.

Lesezeit 14 Minuten

Begegnungen mit magischen Praktiken und der sinnlichen Natur in Indonesien und Nepal

Abram begibt sich in seinem Buch auf eine Reise, die ihren Ausgang in einer Feldforschung und Begegnung mit „traditionellen Zauberern der indonesischen Inseln“ und mit „traditionellen Schamanen Nepals“ nimmt (Abram 2012: 27). Dabei ging es ihm zunächst darum, „magische Praktiken [zu] erforschen, […], die Beziehungen zwischen Magie und Medizin“ zu verstehen und deren medizinische Anwendbarkeit zu erwägen (Ebd.).
Ausführlich beschreibt Abram in einer persönlichen Einführung „Die Ökologie des Magischen“ (Kap. 1), wie sich seine forschende Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen traditioneller Magie und belebter Natur verschoben habe. In indigenen Kulturen würden Magier_innen nicht als „Heiler“, sondern als „Mittler zwischen der Gemeinschaft der Menschen und dem größeren ökologischen Feld“ verstanden (Ebd. 29). Magier_innen sorgten dafür, dass die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer umgebenden Welt „ausgeglichen und wechselseitig“ blieben und dass dem Land nicht mehr entnommen als in verschiedener Form zurückgeben werde (Ebd. 29). Dafür würden sich die Magier_innen unablässig auf die Reise in das „Zwischenreich“ beider Welten begeben und in Ritualen wie Gebeten das Gleichgewicht zwischen diesen immer wieder neu aushandeln (Ebd.). Nur dank einer solchen andauernden Kommunikation „kann eine traditionelle Magierin verschiedenste Krankheiten heilen“ (Ebd.), die als Ausdruck eines systemischen Ungleichgewichts zwischen den Welten verstanden werden (Ebd. 30). Insofern seien die Magier_innen vornehmlich dem „Beziehungsgeflecht der Erde“ verpflichtet, in das die menschliche Gemeinschaft eingebettet sei (Ebd.).
Abrams Begegnung mit den Magier_innen machte ihn dafür empfänglich, seine eigene Sensibilität für die sinnliche Wahrnehmung der umgebenden Welt und für deren Bedürfnisse wiederzuentdecken (Ebd. 42). Er schildert eindrücklich ein Erlebnis während eines Monsunregens auf Bali. In einem Höhleneingang sitzend lenkte sich seine Aufmerksamkeit auf kleine Spinnen und die Weise, wie diese ihre filigranen Netze gesponnen und mit dem sie Umgebenden verbunden hätten (Ebd. 38ff). Dieses Erlebnis war „meine persönliche Einführung in die Welt der Landschaftsgeister und ihre Magie. Durch sie erfuhr ich zum ersten Mal von der Intelligenz, die der nicht-menschlichen Natur innewohnt, von der Fähigkeit einer fremden Wahrnehmungsform, unser eigenes Empfinden zurückzuspiegeln (…) und uns für eine Welt [zu öffnen], in der alles wach, belebt und bewusst ist“ (Ebd. 41).
Seine Rückkehr in die USA hat ihn spürbar werden lassen, auf welch filigranen Füßen diese verschiedentlich wiederbelebte Wahrnehmungsform stand, wie dominant die vertrauten, von der sinnlichen Welt distanzierten Wahrnehmungsmuster waren (Ebd. 46ff). „Je mehr ich über andere Tiere sprach, desto weniger schien ich in der Lage, mit ihnen zu sprechen“ (Ebd. 47). Er habe nach Wegen gesucht, „um die vielfältigen Sinneseindrücke und Wahrnehmungen (…) wieder anzuzapfen“ und sich u.a. in Indianerreservate begeben (Ebd. 49).
In diesem Zusammenhang ist Abrams grundlegendes Forschungsinteresse entstanden. Seine forschende Aufmerksamkeit richtet sich auf Fragen, was es indigenen Kulturen ermögliche, „sich für die außermenschliche Realität zu sensibilisieren und anderen Arten und der Erde mit tiefer Aufmerksamkeit zu begegnen“ und im Gleichgewicht damit zu leben (Ebd.)? Und „wie nur konnte der modernen westlichen Gesellschaft“ beides abhandenkommen und eine gewaltsam zerstörerische Beziehung zum Ökosystem Erde entstehen (Ebd. 49f.)? Uns müsse bewusst werden, womit und inwiefern wir uns von anderen Spezies und der belebten Welt entfremdet und abgeschottet haben. Abram wendet sich insbesondere einem Faktor zu, der die Entfremdung verstehbar werden lässt, dem Wandel der westlichen Wahrnehmungsweisen im Zuge der Einführung der phonetischen Schrift (Ebd. 269). Die Einführung des Alphabets habe zu einem Rückzug der mehr-als-menschlichen Welt aus unserer Sprache und aus unseren Sinnen beigetragen (Ebd. 108f). Es müsse auch ein Nachdenken darüber geben, wie sich eine empathisch sinnliche Wahrnehmung wiederbeleben und wie sich die „Verwurzelung des menschlichen Bewusstseins“ und der Sprache im großen „Oikos“ ins Gedächtnis rufen und erneuern lässt (Ebd. 267).

Zum inhaltlichen Aufbau

Abrams Buch gliedert sich neben dem Vorwort von Andreas Weber, der Einleitung, den beiden persönlich wie philosophisch einführenden Kapiteln (Kap. 1 und 2) in fünf weitere Kapitel (Kap. 3 bis 7) und eine Coda.
In einer ersten Annäherung an seine zentralen Forschungsfragen entwickelt er in einer philosophischen Einführung „Die Ökologie des Magischen“ (Kap. 2) eine begrifflich-theoretische Basis. Dabei bezieht sich Abram auf die „Entwicklung der »Phänomenologie«“ im frühen 20. Jahrhundert (Ebd. 23), da diese die „moderne Annahme“ einer einzigen, vollständig determinierbaren, objektiven „Realität“ wie keine andere westliche Philosophie hinterfragt habe (Ebd. 52). Edmund Husserls Begriffe der „Intersubjektivität“, „Reziprozität“ wie der „Lebenswelt“ ermöglichen es, auch die theoretisch-begrifflichen Gebilde wie methodischen Praktiken in „derselben [wirklichen, vorbegrifflichen] Welt“ wurzelnd zu verstehen, die „wir alle im Alltag mit unseren (…) Sinnen erfahren“ (Ebd. 63,59).

Ein ökologisches Verständnis vom wahrnehmenden Subjekt gewinnt Abram mit der Rezeption von Maurice Merleau-Pontys Schriften, der Husserls Ansatz und insbesondere auch sein Körperverständnis fortgeführt und radikalisiert habe (Ebd. 64). Merleau-Ponty habe Husserls „latente Annahme eines selbstgenügsamen, entkörperlichten, transzendentalen Egos“ (Ebd. 65) zurückgewiesen. Vielmehr stelle der lebendige Körper den Kontakt zu anderen wie zu uns selbst her; er „ist es, der erst Reflexion, Denken und Erkenntnis ermöglicht“ (Ebd.). „Merleau-Ponty lädt uns ein, noch im abstraktesten Denken das sinnlich wahrnehmende und empfindende Leben des Körpers zu erkennen“ (Ebd.). Erfahrungsorientiertes Wahrnehmen vollziehe sich „synästhetisch“ als „konzertierte Aktivität sämtlicher Körpersinne“ (Ebd. 78) sowie als „ein interaktives und partizipatorisches Ereignis, ein reziprokes Wechselspiel zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen“ (Ebd. 107).
In seinem Spätwerk habe Merleau-Ponty den Begriff des Körpers mit dem „des kollektiven »Fleisches«“ ersetzt, um „die Blutsverwandtschaft zwischen dem menschlichen Tier und der Welt, die es bewohnt“, auszudrücken (Ebd. 84). Er verstehe darunter ein „geheimnisvolle[s], auch als Matrix bezeichnete[s] Gewebe, das sowohl dem Wahrnehmenden als auch dem Wahrgenommenen zugrundeliegt und diese hervorbringt als voneinander abhängende Aspekte der eigenen spontanen Aktivität“ (Ebd.).
Im folgenden Kapitel „Das Fleisch der Sprache (Kap.3) erweitert Abram den phänomenologischen Bezugsrahmen um ein Verständnis von Sprache und knüpft wiederum an Merleau-Ponty an. „Der komplexe Austausch, den wir »Sprache« nennen würden, wurzelt im nonverbalen Austausch, der immer schon zwischen unserem Fleisch und dem Fleisch der Welt in Gang ist. (…) Menschliche Sprachen sind folglich nicht nur von der Struktur des menschlichen Körpers und der menschlichen Gemeinschaft geprägt, sondern ebenso von den evokativen Formen (…) des mehr-als-menschlichen Terrains“ (Ebd. 107). Zugleich sei Sprache „eine Ausdrucksform der belebten Erde, die uns umfängt“ (Ebd.).
Abram fragt sich, wie es möglich sei, dass Wahrnehmung verstanden als Ursache aller Erfahrung mit einem offensichtlichen Mangel an Partizipation in der modernen Welt und einem Verlust ihrer Belebtheit einhergehe? (Ebd.) Wie sei der doppelte Rückzug der nicht-menschlichen Natur aus unserer Sprache und aus unseren Sinnen verstehbar (108f.)? In Rekurs auf Edward Sapir nimmt Abram an, dass dieser Verlust an Teilhabe mit der Sprache selbst zu tun habe. Dabei folgt er dessen Annahme, dass die Sprache zwar in der Wahrnehmung wurzle, jedoch auch unsere Sinneswahrnehmung wie die unserer Gesellschaft tiefgreifend beeinflusse (Ebd. 108).
Im vierten Kapitel „Animismus und das Alphabet“ führt Abram zwei Stränge zusammen, die die ‚westliche‘ Entfremdung von der sinnlichen Welt und ihrer synästhetischen Wahrnehmung erklären. Der erste Erklärungsstrang mache „vor allem die jüdische und die christliche Tradition mit ihrem außerweltlichen Gott für die Erdvergessenheit unserer Zivilisation verantwortlich“ (Ebd. 111). Als Beleg diene im Buch Genesis das „Geheiß des hebräischen Gottes an die Menschheit“, sich zu vermehren und sich alles andere Leben auf der Welt Untertan zu machen (Ebd.). Im zweiten Erklärungsstrang würde der Ursprung für die naturverachtende Haltung in der „abendländischen Philosophie“ von Sokrates und Platon gesehen. Als Beleg diene Platons philosophische „Geringschätzung der sinnlich wahrnehmbaren, wandelbaren Formen der Welt – etwa seine Behauptung, hierbei handle es sich um bloße simulacra (»Abbilder«) ewiger und reiner Ideen, die in einer nicht-sinnlich erfahrbaren Ideenwelt jenseits der Erscheinungswelt existierten“ (Ebd.).
Abram zeichnet nach, wie in beiden Kulturen die Einführung der phonetischen Schrift dazu beigetragen habe, dass sich Sprache von dem „Zusammenspiel von menschlicher Gemeinschaft und belebter Landschaft“ entfernt hätte (Ebd. 112). Es seien abstrakte Denkweisen entstanden, die als piktografische Zeichen niedergeschrieben, eine unabänderliche, sichtbare Form erhielten und unabhängig vom mimetischen und zutiefst leiblichen Bewusstsein der Mündlichkeit seien (Ebd. 125f). Dabei habe sich die „synästhetische Magie unserer Sinne“ (Ebd. 151) ebenso fest an diese neue Schrift gekoppelt, „wie sie einst mit Zedern, Raben und dem Mond vermählt waren“ (Ebd. 152). Es sei letztlich eine anthropozentrische Wahrnehmungsweise entstanden: Schriftzeichen „wurden Spiegel, die die menschliche Form ausschließlich auf sich selbst zurückwerfen“ (Ebd. 152).
Im fünften Kapitel “In der Landschaft der Sprache“ wendet sich Abram oral-indigenen Kulturen zu, die „die Partizipation der Sinne nie ganz auf das geschriebene Wort verlagert haben“ (Abram 2012: 153). Exemplarisch befasst er sich mit Geschichten aus der „Entfernten Zeit“ der Koyukon, mit den „Agodzaahi-Erzählungen“ der Westlichen Apachen und mit den Traumzeit-Erzählungen von Aborigines. Dabei wird deutlich, dass Sprache als etwas erfahren werde, „das der gesamten sinnlichen Lebenswelt zueigen ist“ (Ebd. 167) und das in tiefer wechselseitig durchdringender Verbindung mit der menschlichen Welt entstehe (Ebd. 189).
Das Erzählen von Geschichten sei eine „ursprüngliche Form des menschlichen Sprechens (…), die [die] Gemeinschaft der Menschen stets aufs neue mit dem Land vermählt“ (Ebd. 175). Zugleich hebt Abram die unterschiedlichen Weisen in den Blick, „wie Stammesgeschichten ihre Erzähler in ihre spezifische natürliche Umwelt einweben (…) [bzw.] wie, die natürliche Landschaft durch die Menschen spricht, die darin leben“ (Ebd. 192). Die Erzählungen der Westlichen Apachen würden z.B. im Kontakt mit dem Handlungsort (Ebd. 193) hervorgerufen und drückten „ein enges Band zwischen moralischem Verhalten und der Landschaft aus, und können (…) verwandtschaftliche Gefühle zu bestimmten Orten hervorrufen“ (Ebd. 175).
Im sechsten Kapitel „Zeit, Raum und die Verfinsterung der Erde“ geht es Abram darum, „Zeit und Raum wieder miteinander in Einklang zu bringen“ (Ebd. 225). Seine Suche nach einem solchen Einklang wurde angeregt durch die ortszentrierten Erzählungen oral-indigener Kulturen, die eine absolute Trennung zwischen Raum und Zeit nicht kennen würden (Ebd.).
Abrams Analyse der Einführung der phonetischen Schrift und ihrer Auswirkungen auf die Wahrnehmung in westlichen Kulturen verdeutlicht, dass „die intellektuelle Unterscheidung zwischen einer linear-fortschreitenden Zeit und einem gestaltlos-homogenen Raum“ (Ebd.) erst in diesem Zusammenhang entstanden sei (Ebd. 198, 203). Deutlich wird auch, inwiefern diese Unterscheidung zur Ignoranz unserer Abhängigkeit von der Erde geführt habe (Ebd. 225f.; vgl. 193ff).
Abram bezieht sich auf die Arbeiten von Husserl, Merleau-Ponty und Martin Heidegger und findet in ihren Spätwerken ein unabhängiges Nachdenken, das „vom Standpunkt der unmittelbaren, vorbegrifflichen Erfahrung betrachtet“ die Unterscheidung von Raum und Zeit grundlegend in Frage stellt (Ebd. 215). Er wendet sich Merleau-Pontys und Heideggers Bemühen zu, „einen unmittelbaren Bewusstseinsmodus, eine ursprünglichere Dimension zu beschreiben, die weder rein räumlicher, noch rein zeitlicher Natur, sondern (…) beides zugleich wäre“ (Ebd.). Die Verknüpfung dieser Erkenntnisse setzt Abram „in Beziehung zu unserer eigenen Erfahrung“ (Ebd. 223): Zukunft scheint „unserem körperlichen Bewusstsein dessen zu entstammen, was jenseits des Horizonts verborgen liegt – dessen, was die lebendige Gegenwart übersteigt und diese somit offen hält“ (Ebd.). Vergangenheit, „scheint hingegen in unserem fleischlichen Gefühl dessen zu wurzeln, was unter dem Grund verborgen liegt – dessen, was sich der lebendigen Gegenwart verweigert und diese somit trägt“ (Ebd.). Das „Noch-nicht-Gegenwärtige“ wie das „Nicht-mehr-Gegenwärtige“ befinde sich also nicht anderswo und losgelöst von der umfangenden Gegenwart (Ebd. 225). Abram fragt sich, ob der Gegenwart noch eine andere Art der Abwesenheit zueigen sei, aus der Gegenwart in einem Zyklus von Auftauchen und Wiedereintauchen erst gegenwärtig werde. (Ebd. 231)
Im siebten Kapitel „Vom Vergessen und Wiedererinnern der Luft“ bezieht sich Abram wiederum auf Heidegger, um die Luft als unsichtbar, sinnlich spürbar und als grundlegend zwischen menschlicher und mehr-als-menschlicher Welt verbindend zu verstehen. (Ebd. 234) Luft werde von indigenen Kulturen als der „Archetypus“ dessen verstanden, „was unsagbar und unfassbar und doch unbestreitbar wirklich“ sei (Ebd. 235). Ähnlich werde auch das Bewusstsein nicht als „eine Kraft im Inneren ihres Schädels“ aufgefasst, „sondern vielmehr als Qualität, in deren Innerem sie selbst wie auch die anderen Tiere und Pflanzen, Berge und Wolken enthalten sind“ (Ebd.) .
Die Etymologie der Worte „Psyche“, „spiritus“, „anima“ verweise auf eine Vertrautheit der abendländischen Kultur mit der indigenen „Gleichsetzung des Bewusstseins mit der Luft“ (Ebd. 244f.). Auch die Hebräer hätten eine heilige Beziehung zu Wind und Luft gelebt: Im hebräischen Alphabet wurde auf Schriftzeichen für Vokale verzichtet, um, so vermutet Abram, den in der Sprache der Vokale klingenden Atem nicht sichtbar abzubilden. (Ebd. 248)
Erst mit Einführung von Schriftzeichen für die Vokallaute in das griechisch phonetische Alphabet wurden Atem und Luft entheiligt und zu einer selbstverständlichen, substanzlosen Präsenz (Ebd. 258, 245). Mit den Vokalen wären ein sichtbares Abbild dessen geschaffen worden, „was -seinem Wesen nach- unsichtbar ist“ und „die Unbegreiflichkeit dieses Elements“ negiert worden (Ebd. 258). Als „die Unsichtbarkeit der Luft ihre Faszination für die menschlichen Sinne verlor, konnte dieser Platz von jener anderen, extremeren Unsichtbarkeit eingenommen werden – dem völlig körperlosen Reich der reinen »Ideen«, mit der die platonische rationale Psyche nun auf ähnliche Weise verbunden war wie einst die atemähnliche Psyche mit der Atmosphäre“ (Ebd. 259).
In einer Coda, dem letzten Kapitel seines Buchs, lässt Abram die grundlegenden Fragen und forschenden Wege zusammenklingen mit einem Nachdenken darüber, wie eine synästhetische Wahrnehmung der mehr-als-menschlichen Welt wiederzubeleben sei. Dafür braucht es Möglichkeiten des Übens, „wieder zu Sinnen zu kommen (…), das Erdreich unter dem Asphalt zu spüren oder selbst im Inneren des Hauses zu fühlen, wie der Mond das Dach beäugt“ (Ebd. 279).
Abram hebt auch die Bedeutung des Lokalen hervor: „Im Gegensatz zum scheinbar grenzenlosen, globalen Charakter der technikvermittelten Welt ist die sinnliche Welt unserer direkten, unmittelbaren Interaktion immer lokal“ (Ebd. 272). Globale, zentralisierte und oktroyierte Maßnahmen würden niemals ausreichen um „die unmittelbaren Bedürfnisse der lebendigen Welt“ in ihrer „Partikularität“ zu verstehen (Ebd. 274f.). Es bedürfe vieler „Personen und Gemeinschaften“, die sich „zu einer naturgemäßen Wiederbeheimatung regionaler Lebensräume (reinhabitation) hingezogen“ fühlen (Ebd. 277). Damit lässt sich sein Vorschlag verbinden, Technologien auf ein „Maß“ zu schrumpfen, das „sich an den konkreten Bedürfnissen spezifischer Bioregionen“ orientiert (Ebd. 278). Schlussendlich plädiert Abram in der Coda dafür, auch das Medium des alphabetischen Schreibens zur Belebung synästhetischen Wahrnehmens zu nutzen. Die Herausforderung bestehe darin, die Sprache dem Land wieder einzuschreiben, „Geschichten mit dem Rhythmus und dem Singsang der lokalen Klanglandschaft zu spinnen, Geschichten, die von der Zunge [immer wieder] erzählt werden wollen (…) und der buchstabenübersäten Seite entschlüpfen“ (Ebd. 280; vgl. Kagan 2011: 258ff).
Dabei könnte auch das Gehen als eine alltägliche Praxis eine basale Möglichkeit sein, das präsentische, synästhetische Wahrnehmen und die emphatische Interaktion mit der umgebenden mehr-als-menschlichen Welt wiedereinzuüben, im Alltag zu praktizieren und uns in Erzählungen der Erlebnisse immer wieder in Kontakt damit zu bringen.

Forschende Haltung und poetische Schreibweise

David Abram verfolgt mit seinem Buch zwei Absichten: Den Umweltaktivist_innen möchte er „kraftvolle begriffliche Werkzeuge an die Hand geben, (…) die bereits versuchen, unsere gegenwärtige Entfremdung von der lebendigen Erde zu deuten und aufzuheben“ (Abram 2012: 22). Zum zweiten soll die Wissenschaftswelt neue „Denkanstöße“ erhalten, die angesichts vielschichtiger und fortschreitender Naturzerstörung „seltsam still“ bleibe (Ebd.).
Dies erfordere eine forschende Vorgehensweise, die ein hohes Maß an „theoretisch-wissenschaftlicher Präzision bemüht, ohne dabei einen Hehl aus der Leidenschaft, Verblüffung und Freude zu machen, die aus der meiner eigenen Auseinandersetzung mit der lebendigen Landschaft erwachsen“ (Ebd.). Diese sei der Versuch „im Einklang mit unseren Sinnen zu denken: (…), ohne unsere sinnlichen Bande an die Eulen und den Wind zu durchtrennen“ (Ebd. 270). So finden sich in Abrams Forschung seine phänomenologische, philosophiegeschichtliche wie sprachphilosophische Annäherung an die Wandlungen der ‘westlichen‘ Wahrnehmungsweisen im Zuge der Einführung der phonetischen Schrift verwoben mit sinnlichen Erfahrungen, mit Interpretationen empirischer Information von Feldforschungen sowie mit der Rezeption oraler ‚Traditionen‘ indigener Kulturen. Daran lässt sich auch die Frage anschließen, inwiefern die Verbindungsweise zwischen diesen Wissenshorizonten, Praktiken wie subjektiven Erfahrungen in einem inter- oder transdisziplinären Sinne verstehbar sein kann (vgl. Kagan 2011: 200ff).
Ähnlich der Position der Magier_innen setze seine forschende Haltung eine Position am Rand des gesellschaftlichen Zusammenlebens voraus. Damit sei es möglich, „mit einem Bein innerhalb und mit dem anderen außerhalb seiner Gemeinschaft“ zu stehen und „offen“ dafür zu sein, was „jenseits der Spiegelfassaden der Stadt (…) kreucht und fleucht“ (Ebd. 50f.). Diese Haltung ermögliche es, die westliche Wahrnehmungsweise in ihrem Entstehungszusammenhang zu verstehen. (Ebd. 50) Als eine „Weise des Denkens und Fragens“ sei diese Haltung auch auf andere „Faktoren“ übertragbar, die westlichen Entfremdungsprozesse verstehbar machen. (Ebd. 270, 269).
Was Abrams Begegnung mit den oral-indigenen Kulturen und ihren Beziehungen zur mehr-als-menschlichen Welt anbelangt, nimmt er keineswegs eine naiv harmonisierende, exotisierende Haltung ein. Beispiele für gleichgewichtige Beziehungen mit der umgebenden Welt werden ergänzt mit Beispielen von Migrationen indigener Kulturen und katastrophalen ökologischen Folgen (Ebd. 275f.; vgl. Kagan 2011: 254f.) Zudem hat er auch die Prozesshaftigkeit des eigenen Verstehens und Missverstehens wie auch die Grenzen der anthropologischen, übersetzenden Tätigkeit im Blick. Dies wird beispielsweise im Zuge seiner Feldforschung zu magischen Praktiken indigener Kulturen auch in kritischer Auseinandersetzung mit der ethnozentrischen Voreingenommen¬heit westlich anthropologischer Deutungsansätze deutlich (Abram 2012: 30ff).
Entsprechend seiner forschenden Haltung, theoretische Präzision im Einklang mit den Sinnen zu denken, bewegt sich seine Klarheit des Ausdrucks komplexer Gedankengänge im Fluss poetisch empfindsamer, atemberaubender Schönheit. Abrams poetisch erzählende Weise kommt einem nahe und regt tiefgründig an. In Lesepausen hat mich das Nachdenken über das Gelesene oftmals auch in meinem Leseklang begleitet und sich verbunden mit der Vorfreude, die Lektüre fortzusetzen und in den sprachlichen Rhythmus wieder einzutauchen.
Der poetische Ton und Rhythmus tragen Abrams Erzählung, insbesondere seine detaillierten Beschreibungen eigener Erlebnisse wie das Verstehen indigener Wahrnehmungen. Was die Übersetzung ins Deutsche anbelangt, so ist der Sprachfluss beibehalten worden, der im Hinblick auf die poetisch, rhythmischen Passagen sicherlich herausfordernd war.
David Abram knüpft mit seiner Erzählweise an ‚Traditionen‘ von Geschichten oraler Kulturen an. Darin gehe es darum, ein Mitgefühl für die uns umgebende Welt zu wecken und ein Gespür dafür zu bekommen, dass wir durch die „intime Reziprozität“ mit der umgebenden Welt verbunden seien (Abram 2012: 274). Dabei versteht Abram die erklärende Erzählung einer Geschichte als „mit offenem Ausgang“, „Auslassungen“ und aus „verschiedenen Blickwinkeln“ heraus zuweilen „skizzenhaft“ erzählt (Ebd. 271). „Eine Geschichte, die Sinn ergibt, erweckt die Sinne aus ihrem Schlummer […] Es bedeutet, mit wachen Sinnen im Hier und Jetzt zu sein“ (Ebd.).
Das für seine Erzählung bedeutsame sprachliche Wechselspiel zwischen Poetischem und Abstraktem spiegelt sich auch in der Gestaltung des Layouts. Ein nüchterner, abstrakter Schrifttypus trifft auf zwei Zeichen, die pflanzliche Formen in fließender Bewegung anmuten. Diese Zeichen sorgen in der Kopfzeile jeder Seite oder zur Markierung von Sinnabschnitten für belebende Akzente im zweidimensionalen linearen Schriftraum.
Seine forschende Haltung ist grundlegend getragen von einer politischen Bewegtheit, die nicht nur in dem persönlichen Einführungskapitel wie in dem ausklingenden Coda-Kapitel ihren Ausdruck findet. Andreas Weber würdigt Abrams Buch in seinem Vorwort als „ein revolutionäres Werk, das ein neues Denken einführt, neue Rede über die Welt ermöglicht, und nicht zuletzt eine neue Handlungsmoral zum Durchbruch bringen kann“ (Weber 2012: 18f.).
Die Leser_innen lädt Abram ein, sich entsprechend ihrer Interessen auf eine Reise durch das Buch zu begeben und lineare Lesepfade zu verlassen. (Abram 2012: 23) Sachte Wiederholungen, pointierte Zusammenfassungen erleichtern die Wege durch die entfalteten komplexen Erfahrungs- und Gedankenwelten. Zur Darstellung eigener Erfahrungen und der Reflexionen seiner Vorgehensweise verwendet Abram nicht eine distanzierte, indirekte Form, sondern schreibt in der ersten Person Singular. In Rezeption theoretischer Texte sowie fremder Feldforschungen wechselt er in einen distanzierteren Modus. Aber es taucht immer wieder auch die Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person Plural auf, beispielsweise wenn es um zusammenfassende Erkenntnisse geht. Abram begegnet der Lesenden auf Augenhöhe und stellt eine gemeinsame Ebene im Erkenntnis-Lernprozess her. Nachdrücklich fordert uns David Abram immer wieder dazu auf, uns auf den Weg zu machen, unsere verkümmerte Wahrnehmung und unmittelbare Interaktion mit der mehr-als-menschlichen Welt zu beleben und neu zu lernen.

Das Buch

David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. DIE KUNST DER WAHRNEHMUNG UND DIE MEHR-ALS-MENSCHLICHE WELT, mit einem Vorwort von Andreas Weber, aus dem Amerikanischen übersetzt von Matthias Fersterer und Jochen Schilk, Klein Jasedow: thinkOya 2012, 320 Seiten. Klappenborschur ISBN: 978-3-927369-45-0.
Erhältlich bei: http://think-oya.de/home/index.html
David Abram: The spell of the sensous: perception and language in a more-than-human world, New York: Pantheon Books 1996

Weiterführende Literatur

  • Kagan, Sacha: „Auf dem Weg zu einem globalen (Umwelt-) Bewusstseinswandel – Über transformative Kunst und eine geistige Kultur der Nachhaltigkeit“. Berlin: Heinrich Böll Stiftung, 2012. (vgl. http://www.boell.de/publikationen/publikationen-globaler-umwelt-bewusstseinswandel-14828.html, Zugriff am 05.05.13)
  • Kagan, Sacha: “Art and Sustainability. Connecting Patterns for a Culture of Complexity”. Bielefeld: transcript, 2011.
  • Kagan, Sacha: “Walking in the history and art history of Europeans: a very brief introduction, in ders. (ed.): Art “Walking in Life, Art and Sciences: a few examples”, Leuphana Universität Lüneburg, 2010, 5-37. (vgl. http://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/isko/files/Walking_ed-Kagan_2010.pdf, Zugriff am 05.05.13)


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