22. September 2010 | Neue Bucherscheinung

Das andere Wachstum

von Horst Berger. Hamburg


Die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt untersucht seit Jahren die mögliche Verbindung zwischen Kunst, Kultur und Nachhaltigkeit. Nun hat sie eine neue Studie veröffentlicht: „Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit“.

Lesezeit 2 Minuten

Das soeben erschienene Buch „Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit“ der Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt leistet einen Beitrag zur aktuellen Wachstumsdebatte. Primär von der Kulturphilosophie und der Kunst aus erkundet die Autorin Wege hin zu einem nicht mehr quantitativen, sondern qualitativen Verständnis von Wachstum. Das Buch geht aus einem Forschungsprojekt des „und. Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit“ hervor und wurde beim Mayer Verlag, Stuttgart, veröffentlicht.

Der Untertitel knüpft an die Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ von Wassily Kandinsky an, der als „Erfinder“ der abstrakten Formensprache gilt. Sein Aquarell „Erstes abstraktes Bild“, entstanden vor genau einhundert Jahren, bildet ein Verständnis von Wirklichkeit ab, das nicht mehr rational ist, sondern relational. So steht das „Geistige“ bei Hildegard Kurt als im Kandinskyschen Sinne offene Chiffre für ein Denken und Handeln, das über die bloße Ratio hinaus Verbindendes und Verbindlichkeit schafft, und das sich von der Wissenschaft und von der Kunst, aber auch aus Erfahrungswissen herleiten lässt.

Nachhaltigkeit braucht eine Kultur des inneren Menschen

Zentrale Fragen in „Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit“ sind: Gibt es ein gesellschaftliches Wachsen jenseits von Akkumulieren? Ist es möglich, Wachstum – jenseits des Dogmas vom Wirtschaftswachstum – neu zu denken und zu unterstützen, gemäß den wirklichen Bedürfnissen des Menschen im Einklang mit der Natur? Wie lässt sich die einseitige Vorherrschaft des technisch-instrumentellen Denkens überwinden, das überall auf der Erde Wertvorstellungen gleichschaltet und Vielfalt vernichtet? Wie werden wir in unserer Lebenspraxis der Welt als schöpferischer, unverfügbarer Prozess gerecht?

Hildegard Kurts Ansatz nimmt einen zentralen Gedanken des Ökonoms Ernst F. Schumacher aus dessen legendärem Band Es geht auch anders. Technik und Wirtschaft nach Menschenmaß. Jenseits des Wachstums von Anfang der 70er Jahre auf: Wenn die „Kultur des inneren Menschen“ vernachlässigt werde, bleibe, so Schumacher, die Selbstsucht die dominierende Kraft, gerade im Wirtschaftssystem. Hildegard Kurt: „Die Ton angebenden Strömungen im Diskurs um Nachhaltigkeit befassen sich kaum mit der `Kultur des inneren Menschen´. Sie folgen natur- und sozialwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Prioritäten. All das ist wohlgemerkt absolut wichtig und unverzichtbar. Doch braucht die Nachhaltigkeit auch eine Seele. Denn ganz gleich wie aktiv wir sein mögen: Solange sich das Bewusstsein nicht entwickelt, wird alles Handeln nichts Neues bewirken.“

Die Autorin sucht nach Formen einer Wissenschaft, die über das bloß Intellektuelle hinaus den ganzen Menschen ergreift und in Entwicklung bringt. Angesichts der Notwendigkeit, als Individuum und als Gesellschaft auf zukunftsfähige Weisen zu wachsen, verbindet Hildegard Kurt dieses erweiterte Verständnis von Wissenschaft mit dem erweiterten Verständnis von Kunst, wofür einst Joseph Beuys die Formel prägte: Jeder Mensch ist ein Künstler.

„Wachsen!“ beinhaltet sieben Essays zu den folgenden Themen: Aufbruch der Klassischen Moderne. Der Gang in die Abstraktion – Von wachsenden Skulpturen und vom Werden der Welt – Neue Organe der Wahrnehmung entwickeln – Die Liebe üben – Sterben – Gesunden – Vom Klimawandel.

Die Förderer

Gefördert wurde dieses Forschungsprojekt von der Altner-Combecher Stiftung für Ökologie im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Ferner hat die Hatzfeldt-Stiftung das Projekt unterstützt.



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