taz: Herr Coler, was reizte Sie daran, das Paradies der Frauen zu suchen?
Ricardo Coler: Ich wollte wissen, wie es sich in einer Gesellschaft lebt, in der die Frauen bestimmen. Ich war in verschiedenen Matriarchaten, in Indien, in Mexiko, aber bei den Mosuo in China gibt es das reinste. Ich hatte ein umgekehrtes Patriarchat erwartet. Aber dem war nicht so. Im Dorf laufen die Frauen zwar vorneweg und die Männer hinterher, aber auf die Idee, Vermögen anzuhäufen, kommen Frauen nicht, es reicht ihnen, wenn es der Familie gut geht. Mir scheint, Kapitalakkumulation hat eine männliche Triebfeder. Nicht umsonst sagt der Volksmund, der Unterschied zwischen einem Mann und einem Jungen ist der Preis seines Spielzeugs.
Ist es auch ein Paradies für Männer?
Wo die Frauen das Sagen haben, leben die Männer besser. Sie arbeiten viel weniger als im Patriarchat. Sie sind den ganzen Tag mit Freunden und jede Nacht mit einer anderen Frau zusammen. Niemand beschwert sich oder fordert Geld. Sie leben für immer bei ihrer Mutter. Als Frauen mich zum Essen eingeladen hatten, wollte ich beim Abräumen und Abwaschen helfen. Ich durfte nicht, kein Mann durfte sich daran beteiligen. Die Frau bedient den Mann, obwohl sie über das Geld verfügt, sich ihrer dominanten Stellung sicher ist und sich dabei frei und wohlfühlt.
Wie haben Sie als Fremder Zugang gefunden?
Die Mosuo sind überaus freundlich. Ich wurde ins Haus eingelassen, als wäre ich ein Außerirdischer, den sie unbedingt kennenlernen wollten. Sie fragten mich aus und ich sie.
Was hat Sie am meisten erstaunt?
Dass in der matriarchalen Gesellschaft keine Gewalt existiert. Gewalt scheint eine männliche Sache zu sein. Die Frauen empfinden Streit als Schande, sie fürchten Ansehensverlust.
Aber wenn es für ein Problem keine Lösung gibt?
Frauen sagen, wo es langgeht. Manche etwas bestimmter, manche etwas freundlicher. Es sind starke Frauen, die klare Anweisungen erteilen. Ein Mann muss eingestehen, dass er mit einer Sache nicht fertiggeworden ist. Er wird nicht ausgeschimpft oder bestraft, sondern wie ein kleiner Junge behandelt, der seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Dennoch sagen die Frauen, die großen Entscheidungen, ob eine Maschine oder eine Kuh gekauft werden soll, treffen die Männer. Die Frauen legen auf solche Entscheidungen nicht viel Wert. Die offizielle staatliche Autorität, der Bürgermeister, ist ein Mann. Ich spazierte mit ihm durchs Dorf, niemand beachtete ihn. Als Mann besitzt er keine Autorität.
Und das Liebesleben?
In der matriarchalen Gesellschaft sind Liebe und Erotik allgegenwärtig. Es werden ständig doppeldeutige erotische Witze gerissen. Wenn es ums Verführen geht, dann wandeln sich die Frauen komplett, sie geben sich schüchtern. Am nächsten Morgen geht der Mann, und die Frau macht weiter wie bisher.
Also ist es das Paradies der freien Liebe?
Das Sexualleben der Mosuo ist sehr aktiv, Partner werden häufig gewechselt. Sollten sie sich verlieben, dann empfängt die Frau nur diesen Mann. Wenn ein Mann eine Frau besucht, hängt er seinen Hut an den Haken an der Haustür. So klopft kein anderer an. Die Frauen wählen, mit wem sie die Nacht verbringen.
Wissen die Mosuo, was Heirat und Ehe bedeuten?
Ja, den Kindern wird sogar damit gedroht: Wenn du nicht brav bist, dann verheiraten wir dich. Die Kinder kennen Ehe als Horrorgeschichten. Mich haben sie gefragt, wie wir das machen. Ah, sagten sie, das muss toll sein. Dabei lachen sie sich kaputt, dass wir von etwas erzählen, von dem alle wissen, dass es nicht funktioniert.
Haben Sie Ihren Hut auch an einen Haken gehängt?
Eine Frau wollte ein Kind von mir haben. Ich sagte, nein, du lebst in China und ich in Argentinien. „Na und?“, war die Reaktion. Die Kinder bleiben ihr Leben lang bei der Mutter. Ich sagte, ich kann keine Kinder haben, die ich nicht sehen kann. Sie hat nur gelacht, als würde ich die Sache zu ernst nehmen. Wenn sie Kinder haben, sind sie von ihnen, der Mann spielt dabei keine Rolle.
Wollen die Frauen lieber Töchter als Söhne?
Eine Familie ohne Töchter ist eine Katastrophe. Zudem geht es ihr wirtschaftlich schlechter, denn die Frauen verwalten das Geld und kaufen nicht jeden Schnickschnack. Eine Familie hat zwischen 15 und 20 Angehörige, manchmal auch weniger; sie umfasst die Mutter mit ihren Geschwistern, ihren Kindern und den Kindern ihrer Geschwister. Weil niemand heiratet, muss niemand die Familie verlassen.
Haben die Mosuo kein Wort für „Vater“?
Doch. Aber es gibt kein Konzept für Vaterschaft. Da die Frauen den Partner wechseln, wissen sie oft nicht, wer sie geschwängert hat. Und die Kinder wissen nicht, wer ihr Vater ist. Sie brauchen auch keinen Vater, denn dessen Rolle übernimmt die Mutter oder die Familie. Die Kinder vermissen nichts.
Gibt es dort auch Übles?
Buttertee. Das ist, als ob du Tee aus Fett trinken musst. Eklig. Aber ihn nicht zu trinken, das ist wie ein ungezogenes Kind sein. Also habe ich die Klappe gehalten und ihn geschluckt. Und dann noch die hundertjährigen Schweine. Sie töten ein Schwein, holen die Innereien heraus und lassen es trocknen. Dann schneiden sie Stücke ab, die oft nur reines Fett sind und frittieren sie. Auch dies bitte nicht wieder.
© taz – die Tageszeitung vom 27.05.2009
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Das Buch
Ricardo Coler: „Das Paradies ist weiblich“. Kiepenheuer 2009, 17,95 €