Der Ausbau der öffentlichen Studienfinanzierung und -förderung ist der Dreh- und Angelpunkt, um mehr Chancengleichheit beim Hochschulzugang und im Studium zu erreichen. Viele Weichenstellungen der aktuellen Bildungspolitik weisen jedoch in eine andere Richtung: So zeigen Untersuchungen zum Beispiel, dass Studiengebühren für Jugendliche aus bildungsfernen und einkommensschwachen Elternhäusern ein zusätzlicher Grund sind, trotz Abitur auf ein Studium zu verzichten. Andererseits muss das BAFöG weiterentwickelt werden, um noch wirksamer als bisher eine höhere Beteiligung an akademischer Bildung unabhängig von der Finanzausstattung des Elternhauses zu unterstützen. Dazu ist etwa der Darlehensanteil zu Gunsten eines nicht rückzahlungspflichtigen Zuschusses zurückzuführen.
Diese Anforderungen formuliert das neue Leitbild „Demokratische und Soziale Hochschule“, das ein Kreis von 18 renommierten Bildungsforschern, Hochschulpraktikern und gewerkschaftlichen Bildungsexperten auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung erarbeitet hat. 14 wissenschaftliche Expertisen sind in den Leitbildprozess eingeflossen.
Als hochschulpolitisches Reformprogramm stellt das Leitbild einen Alternativentwurf dar zu Modellen, die den Wissenschafts- und Lehrbetrieb einseitig über ein Wettbewerbskonzept modernisieren wollen. Unter anderem an den folgenden Punkten:
Öffentliche Studienfinanzierung
- Die öffentlichen Bildungsausgaben müssen gestärkt werden und sich am höheren Niveau in vergleichbaren Industrieländern orientieren.
Die Ausgaben für die Bildung dürfen nicht länger als konsumtive Staatsausgaben verstanden werden. Sie sind Zukunftsinvestitionen, die dementsprechend in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigt werden müssen. Hochschulen sind als Wirtschaftsfaktor und nicht mehr als Kostenfaktor zu behandeln. - Die für eine Stärkung der öffentlichen Hochschulfinanzierung erforderlichen Mittel sollen durch eine sozial gerechte Steuerreform und die Bündelung von sozialen Transferleistungen bzw. bisherigen Steuererleichterungen für Familien mit studierenden Kindern aufgebracht werden.
- Die Finanzierung der öffentlichen Hochschulen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Dort, wo die Länder diese Aufgabe nicht allein erfüllen können, ist der Bund gefordert. Die durch die Föderalismusreform herbeigeführte Kleinstaaterei muss auf den Prüfstand.
- Damit die Hochschulen eigenständig Forschungsschwerpunkte oder Lehrschwerpunkte setzen können, müssen ihre Grundhaushalte, die aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren sind, wieder ausgeweitet werden.
Das Verhältnis von Projekt- zu Grundfinanzierung muss deshalb neu bestimmt werden. Notwendig ist eine ausreichende Grundfinanzierung, mit der sichergestellt ist, dass die Hochschulen ihre Aufgaben in Lehre, wissenschaftlicher Weiterbildung und Forschung auf hohem Niveau erfüllen können.
Bessere Betreuung für mehr Chancengleichheit
- Eine soziale Öffnung des Hochschulzugangs ist nicht nur erforderlich, um soziale Chancengleichheit zu realisieren, sondern auch, um den zukünftigen Bedarf an hoch qualifizierten Fachkräften zu sichern. Daher gilt es insbesondere Jugendliche aus so genannten bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten, aus Migrantenfamilien oder bereits beruflich Qualifizierte zusätzlich für ein Studium zu gewinnen. Die Hans-Böckler-Stiftung zeigt mit der Böckler-Aktion Bildung, dass diese Gruppen für ein Studium motiviert werden können, wenn sie gezielt angesprochen und gefördert werden. Dies ist nicht nur eine materielle Frage, sondern schließt auch den Aspekt der ideellen Unterstützung durch Beratung, Betreuung und Fortbildung ein.
- Auch wenn wesentliche Barrieren für eine erweiterte Studienbeteiligung nicht nur an der Schwelle zur Hochschule, sondern im Schulsystem und sogar davor liegen, verstärkt sich die soziale Selektivität beim Hochschulzugang nochmals. Eine soziale Hochschule nimmt ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr, indem sie durch ihre soziale Öffnung der Selektivität aktiv entgegenwirkt, auch wenn diese an anderer Stelle im Bildungssystem verursacht worden ist. Notwendig ist ein bedarfs- und nachfrageorientierter Ausbau des Studienplatzangebots an den deutschen Hochschulen. Durch gemeinsame Anstrengungen von Bund, Ländern und Hochschulen müssen Zulassungsbeschränkungen abgebaut werden.
- Eine Hochschule, die soziale Chancengleichheit verwirklichen will, kann auf mehreren Ebenen ansetzen. Dies beginnt damit, die soziale und individuelle Lebenssituation ihrer Studierenden differenziert (nach Geschlecht, Alter, sozialer Herkunft, Ethnizität, nach körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen, kultureller und sprachlicher Herkunft, familiären Aufgaben) wahrzunehmen. Es schließt offene und flexible Bildungsangebote ebenso ein wie die gezielte Integration und Förderung im Studium durch Betreuung, Beratung und Partizipation. Eine soziale Hochschule begleitet den Übergang zum Beruf und stellt Transparenz bei der Auswahl von Tutorien und der Besetzung von Hilfskraft- und Nachwuchsstellen her. Dies alles kann Gegenstand eines „Social Mainstreaming and Monitoring“ sein, mit dem beispielsweise die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft überprüft werden kann, und das als verbindliches Kriterium in die Studiengangsgestaltung, in Akkreditierung und Evaluation eingehen soll.
Öffnung für beruflich Qualifizierte
- Durch den nachholenden Bildungsaufstieg beruflich Qualifizierter kann ein weiterer Beitrag zur sozialen Öffnung der Hochschule geleistet werden. Dafür muss die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung erhöht und in einem Dritten Bildungsweg systematisch zusammengeführt werden. Hochschulen müssen sich stärker für qualifizierte Berufstätige ohne herkömmliche Studienberechtigung öffnen. Dafür sollten in den Ländern und an den Hochschulen neue, transparente Wege des Hochschulzugangs und der Anrechnung beruflich erworbener Kompetenzen entwickelt werden.
- Bessere Möglichkeiten des berufsbegleitenden Studiums können eine Studienaufnahme für Berufspraktikerinnen und -praktiker attraktiver machen. Die Hochschulen müssen diese Zielgruppe in ihren Studienangeboten berücksichtigen. Studiengänge und Curricula sind so auszurichten, dass sie den Einstieg in wissenschaftliches Lernen systematisch fördern und die Kompetenzen Berufserfahrener bei der Gestaltung der Studiengänge einbeziehen. Die Anrechnung beruflich erworbener Kompetenzen und Zertifikate auf das Studium muss als gängige Praxis ein Standard in der Studiengestaltung werden.
- Duale Studienangebote, die Berufsausbildung bzw. ausführliche betriebliche Praxis und Studium verbinden, können einen Beitrag zur sozialen Öffnung der Hochschule leisten. Sie dürfen nicht zu exklusiven Angeboten werden, die nur ausgewählten Abiturientinnen und Abiturienten als Alternative zum Regelstudium vorbehalten bleiben.
Duale Studienangebote dürfen weder in Konkurrenz zum Regelstudium noch zur Dualen Berufsausbildung treten, sondern sollten als weitere Brücke in die Hochschule verstanden werden. Dazu ist es notwendig, dass sie den Qualitätsstandards des wissenschaftlichen Studiums genügen, dass betriebliche und hochschulische Ausbildungsteile aufeinander bezogen sind und dass die Arbeitsbelastung für die Studierenden auf ein vertretbares Maß gesenkt wird.
Der Tertiäre Bereich: differenziert, durchlässig und gleichwertig
- Sinnvoll ist ein in sich differenzierter Tertiärer Bereich, der sowohl den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Erwartungen der Studierenden als auch den sich ändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes nach hoch qualifizierten Beschäftigten innerhalb und außerhalb des Hochschulsystems gerecht werden kann: eher praxisbezogene oder theoriebezogene, eher regional- oder international orientierte, kürzere oder längere Studienangebote sollen in ihm gleichberechtigt auch unter dem Dach einer Hochschule in einem System der Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit angeboten werden. Der Zugang zum Bachelor-Studium ist durchlässig zu gestalten. Beim Übergang vom Bachelor- zum Master-Studiengang darf es keine Zulassungsbarrieren geben.
- Diese – qualifizierte – Differenzierung steht nicht im Widerspruch zur demokratischen und sozialen Gestaltung der Hochschule. Eine Mittelvergabe, durch die sich die Unterscheidung nach Exzellenz und Nicht-Exzellenz sowohl in Forschung als auch in Lehre weiter und stetig vertieft, ist nicht zu akzeptieren. Die im Rahmen des Bologna- Prozesses auf europäischer Ebene formulierte Hochschulpolitik kennt die Hierarchien und Abschottungen des deutschen Hochschulsystems nicht. Auch aus diesem Grund wird die mit dem Bologna-Prozess neu einsetzende und vom Wissenschaftsrat wiederholt angemahnte Diskussion über das Verhältnis und die Aufgaben von Fachhochschulen und Universitäten unterstützt.
Studium als wissenschaftliche Berufsausbildung
- Der überwiegende Teil der Studierenden erstrebt mit dem Studienabschluss und mit den im Studium erworbenen Kompetenzen eine fundierte wissenschaftliche Berufsausbildung und eine sichere Beschäftigungsperspektive. Hochschulen werden ihren Aufgaben nur gerecht, wenn sie ihr Verhältnis zum Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt klären und sich bewusst und offensiv mit dem Verhältnis von Studium und Beruf auseinandersetzen. Studierende sollen auf eine anspruchsvolle, wissensbasierte Berufstätigkeit außerhalb und innerhalb der Hochschulen vorbereitet werden.
- Qualifizierte Verbleibsstudien zur beruflichen Karriere der Absolventinnen und Absolventen sind ein geeignetes Mittel, um eine langfristige und nachhaltig angelegte Abstimmung von Hochschule und Arbeitswelt zu unterstützen.
Die Qualität von Studium und Lehre verbessern
- Die Qualität von Studium und Lehre ist maßgeblich daran zu bewerten, ob ein Studium die Studierenden in ihrem Lernen bestmöglich unterstützt und ob das selbst organisierte Lernen sowie die Eigeninitiative und die Eigenverantwortung der Studierenden gefördert werden. Die von den Hochschulen angebotenen Studiengänge sollen den Studierenden eine berufliche Perspektive eröffnen, sie in wissenschaftliches Arbeiten und Denken einführen, einen Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung leisten sowie die Entwicklung der Studierenden zu kritischen und mündigen Bürgerinnen und Bürgern unterstützen.
- Die Studiengänge sollen hinsichtlich ihrer Organisation, hinsichtlich der zeitlichen Belastungen, hinsichtlich der Zahl und der Qualität von Prüfungen und in Bezug auf die angewandten Lehr- und Lernmethoden studierbar sein. Sie sind auf Förderung auszurichten und nicht auf Auslese. Studienbedingungen sollen familiengerecht gestaltet werden und den sozialen Rahmenbedingungen, denen Studierende ausgesetzt sind, Rechnung tragen. Vor dem Studium erworbene Qualifikationen und Kompetenzen sowie Lernerfahrungen von beruflich Qualifizierten müssen angerechnet und in den Studiengangkonzepten berücksichtigt werden. Gerade in den so genannten MINT-Fächern ist durch geeignete Maßnahmen, u. a. durch gender-diversity-gerechte Lehrinhalte und Methoden, der Anteil junger Frauen signifikant zu erhöhen.
- Die Gestaltung der Studiengänge in einer Demokratischen und Sozialen Hochschule wird als Aushandlungsprozess verstanden: Lehrende, Studierende und gesellschaftliche Gruppen einschließlich der Gewerkschaften sind dabei einzubeziehen. Eine von den Hochschulbeschäftigten, den Studierenden und der Berufspraxis mitbestimmte und mitgestaltete Qualitätssicherung unterstützt diese Ziele. Deshalb beteiligen sich die Gewerkschaften und die Studierenden an der Gestaltung der Bachelor- und Masterstudiengänge. Sie engagieren sich im Akkreditierungsrat, in den Akkreditierungsagenturen und in den Gutachtergruppen. Sie wollen damit die inhaltliche Studienreform fördern und die nationale und internationale Anerkennung der Studiengänge verbessern.
Professionelles Management, Mitbestimmung und Partizipation
- Um die gewachsene Selbstverantwortung einer selbstständigen Hochschule nutzen und ihre Entwicklung effizient steuern und verantworten zu können, bedarf es eines von den originären Aufgaben von Forschung und Lehre zu unterscheidenden kompetenten Managements insbesondere auf der Leitungsebene der Hochschulen, aber auch innerhalb ihrer Organisationseinheiten. Dieses Personal ist professionell zu entwickeln.
- Diesen Herausforderungen können am besten kollegiale Leitungen in einem Präsidialsystem gerecht werden. Dabei sollen die Mitglieder der Hochschulleitungen auch von außerhalb der Hochschule sowie aus nicht-professoralen Gruppen kommen können. Hochschulleitungen mit erweiterter Gestaltungskompetenz und eine demokratische Mitbestimmung und Partizipation aller Hochschulangehörigen sind zwei Seiten einer Medaille.
- Eine Demokratische und Soziale Hochschule basiert auf der Professionalisierung des Hochschulmanagements mit kurzen Entscheidungswegen und klaren Verantwortlichkeiten bei gleichzeitiger Respektierung und Erweiterung der Selbst- und Mitbestimmungsrechte aller an der Universität tätigen Gruppen als Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit.
- Die derzeitige Zusammensetzung der Hochschulräte und die fehlende Rechenschaftspflicht ihrer Mitglieder genügen diesem Anspruch auf gesellschaftliche Pluralität nicht und gefährden die Unabhängigkeit der Hochschule. Pluralistisch zusammengesetzte Hochschulräte sollen die Hochschulleitungen bei der strategischen Planung unterstützen und die Hochschulen bei der Auswahl der Hochschulleitungen beraten. Sie sollen zu den Rechenschaftsberichten und Haushaltsplanungen Stellung nehmen. Die Wahl und die konstruktive Abwahl des Präsidiums liegen in der originären Zuständigkeit einer autonomen sich selbst verwaltenden Hochschule.
Den Arbeitsplatz Hochschule attraktiv gestalten
- Eine Hochschule kann vor allem dann hervorragende Ergebnisse erzielen, wenn die Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten attraktiv gestaltet sind. Die Personalausstattung soll sowohl beim wissenschaftlichen als auch beim technischen Verwaltungs- und Bibliothekspersonal aufgabengerecht erfolgen. Eine Zuordnung von Personen zu Funktionseinheiten ist geeigneter als die Zugehörigkeit zu einzelnen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern, auch um persönliche Abhängigkeiten einzuschränken und um die Teilhabe an der hochschulischen Meinungsbildung sowie die Wahrnehmung persönlicher Interessen nicht zu beeinträchtigen.
- Die Benachteiligung von Frauen besonders als Hochschullehrerinnen und in Führungspositionen muss endlich überwunden werden. Frauenförderung und Familienfreundlichkeit müssen jeder Hochschule ein zentrales Anliegen sein. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse darf es im kreativen Wissenschaftsbetrieb Hochschule nicht geben. Befristungen und Teilzeitarbeitsverträge sollten zurückgeführt werden, da sie für die Leistungserbringung der Hochschulen und für die Berufsperspektive der Beschäftigten in keiner Weise förderlich sind.
- Die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses erfolgt idealerweise in sozial abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen planmäßig und strukturiert, wofür die Hochschule verantwortlich ist. Den Hochschulen kommt dabei auch die Verantwortung zu, bei den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Kompetenzen zu schulen und zu entwickeln, die auf den außeruniversitären Arbeitsmärkten verwertbar und anschlussfähig sind. Die Tätigkeit als Doktorand oder Doktorandin stellt unabhängig vom Status und vom Anstellungsverhältnis die erste Stufe des selbständigen wissenschaftlichen Arbeitens dar und verlangt nach einer entsprechenden Anerkennung. Allen Doktorandinnen und Doktoranden sollte daher ebenso wie Postdocs der Status von Hochschulmitgliedern gegeben werden. Nur so können auch diejenigen, die mit einem Stipendium oder nebenberuflich promovieren, ihre Rechte auf Mitbestimmung und Nutzung der Infrastruktur der Hochschulen wahrnehmen.