2. Dezember 2009 | Kochkulturen

Wie Indien schmeckt

von Navina Sundaram. Hamburg


Selbst ein kleiner Einblick in die indische Kochwelt entpuppt sich als geschmacklicher Mikrokosmos. Schnell läuft man Gefahr, sich in den kulinarischen Weiten zu verlieren. Tante Madhuram, eine Gralshüterin indischer Kochkunst, nimmt uns bei der Hand.

Lesezeit 6 Minuten

Gibt man den Begriff „Indische Küche“ bei Google ein, kommen nie enden wollende Websites zum Vorschein – eine regelrechte Cyber-Galaxie der Kochkunst Indiens.  Experten streiten sich über ihr Alter. Die indische Küche sei über 2000 Jahre vor Christus entstanden verkünden die einen. Noch älter, verlautbaren die anderen. Wie dem auch sei, über die Jahrtausende und die Jahrhunderte haben verschiedene Invasoren aus Zentral-Asien, Arabien, Persien und Europa ihren geschmackserweiternden Einfluss auf Indiens Küchen ausgeübt: Die Groß-Moguln, die Portugiesen (sie brachten die Kartoffel, die Tomate und, man staunt, die Chilis aus der Neuen Welt in ihren Handelsschiffen mit) und die Engländer. Englische Küche? Pfui Deibel! Selbst das Hexengebräu auf der Heide in Shakespeares Macbeth klingt interessanter. Sie erinnern sich: „Doppelt plagt euch, mengt und mischt! Kessel brodelt, Feuer zischt. Sumpfger Schlange Schwanz und Kopf,  Brat und koch im Zaubertopf: Molchesaug und Unkenzehe, Hundezung und Hirn der Krähe; Zäher Saft des Bilsenkrauts, Eidechsbein und Flaum vom Kauz: Starken Zauber eingemischt! Höllenbrei im Kessel zischt…“

Die Inder übten dann in der britischen Diaspora späte Rache und Chicken Tikka Masala wurde auf die Ebene von einem Nationalgericht des Vereinigten Königreichs gehoben, das sogar fish n chips vom Platz Eins in den Imbissbuden verdrängt und ihren ikonisierten Status eingenommen hat.
Bei uns hier in Deutschland sind jeder Brigitte-Leserin, auch jedem Brigitte-Leser, die holistisch gesunden Ayurveda-Kuren und  Ayurveda-Tees sowie Ayurveda-Küche sattsam bekannt: Kapha, Pitta, Vata, die drei Doshas oder Konstitutionstypen sind geradezu Haushaltsworte geworden. Wo also beginnen?

Bei den Masalas, diesen Gewürzen, mit den so duftig klingenden Namen: Garam Masala, Dhaniya (Koriander), Zeera (Kreuzkümmel), Haldi (Gelbwurz), Hing (Asafötida),  Bockshornkleesamen, Zimt, Curry Blätter, Anis, Fenchel, Til (Sesam), Tulsi (indischer Basilikum), schwarzer Kümmel, schwarzer Pfeffer, Kardamom, Safran, Ingwer, Minze, Roter Chili, grüner Chili, Makaradwaj, aber halt! Bin ich etwa die Hüterin der Gewürze? Nein, das überlasse ich Chitra Divakaruni. Und was ist mit Tamarinde und Kokosnuss, Senf und Ghee? Lassi und Papadam?

Bei der opulenten und allumfassenden Beschreibung der Essgelüste einer frustrierten Boonyi, die von ihrem amerikanischen Liebhaber verschmäht aus lauter Kummer nun anfängt zu essen, als sei sie „besessen von der nostalgischen Erinnerung an das kashmirische Super-Wazaan, das Bankett-mit-höchstens-sechzig-Gängen…Natürlich ließ sie sich kashmirisches Essen kommen, aber ebenso die Tandoori- und Mughlai-Speisen Nordindiens, die Boti Kababs, Murg Makhani und die Fischgerichte der Malabar-Küste, die Masala Dosas aus Madras und die berühmten frühen Kürbisse von der Coromandel-Küste, die scharfen Currys mit Mixpickles aus Hyderabad, Kulfi, Barfi, Pista-ki-lauz und die süßen bengalischen Sandesh. Ihr Appetit war auf subkontinentales Maß gewachsen. Er reichte über alle Sprach- und Brauchtumsgrenzen hinweg. Sie war ein vegetarischer, Fisch und Fleisch essender, hinduistischer, muslimischer, ein demokratischer und weltlicher Allesfresser.“ Grandios beschreibt der wortgewaltige, fantasievolle Schriftsteller Salman Rushdie in „Shalimar, der Narr“, die kulinarische wie sonstige Vielfalt Indiens.

Jetzt weiß ich es. Hier muss ich beginnen:  bei meiner Lieblingstante, bei Madhuram Shankar. Zutiefst verwurzelt in der südindischen Tradition und ihrem Wertesystem, aber gleichzeitig für eine moderne Lebensart absolut offen, hat diese zierliche, sanfte Person eine beneidenswerte Synthese der beiden Welten geschafft. Tante Madhuram und mein wanderlustiger Onkel Shankar lebten in Malaysien, West Afrika, Großbritannien und in den USA für über 35 Jahre, ehe sie sich wieder in Chennai, dem früheren Madras niederließen.

Tante Madhurams Fähigkeit, das eine anzunehmen ohne das andere zu verwerfen, sich der jeweiligen neuen Umgebung anzupassen ohne sich aufzugeben, hat sie zu einem der tolerantesten und liebenswertesten Menschen gemacht, den ich kannte. Mutter von fünf Kindern und im Prinzip Hausfrau, wenn auch eine weitgereiste, konnte Tante Madhuram kochen, einfach ganz wunderbar kochen.

1997 erschien  eine Publikation mit dem schnörkellosen Titel: „Vegetarian Recipes from South India – like mother makes“ (Vegetarische Rezepte aus Süd Indien – wie Mutter sie macht) Ursprünglich gedacht als ein Überlebensset von Kochrezepten für Familienmitglieder und Freunde, die außerhalb Indiens lebten, wuchs es zu einem Buch. „Schuld oder Dank, jenachdem, gebührt allein meinen Kindern und meinen Schwiegersöhnen“, schrieb sie in der Einleitung. Sie hofft, dass die Rezepte einen zweifachen Zweck erfüllen: „Das Bekannte in Reichweite derjenigen zu bringen, die diese kulinarische Tradition schon kennen, und Interesse für das Unbekannte bei denjenigen zu erwecken, die diesen Teil der Geschmackswelt nicht kennen“. Und in der Tat, die südindische Küche hat sich, aus einem mir unerklärlichen Grunde, in der Restaurant-Landschaft außerhalb Indiens kaum behaupten können. In Deutschland ist sie geradezu unbekannt, überschattet wird sie vom überpräsenten, robusten, nord-indischen Essen aus dem Punjab.

Insofern sind Tante Madhurams Rezepte bahnbrechend und verdienen einer breiteren Öffentlichkeit, selbst wenn sie oder gerade weil sie sich mit charakteristischer Bescheidenheit in eine alte tamilische Weisheit flüchtet: „Wer darüber redet, hat es (das Göttliche) nicht gesehen. Wer es gesehen hat, redet nicht darüber“. So ähnlich ergeht es mir, meint sie, bei dem Versuch, eine ordentliche Formel für etwas zu  finden, das im Prinzip auf  Erlebnis beruht“.

Der Begriff „Geschmackswelt“ in Bezug auf Indien bedarf der Qualifizierung. Es gibt so viele Küchen auf dem Subkontinent wie es Bundesstaaten und Sprachen gibt, eigentlich noch mehr –  so viele wie es Dialekte, ethnische Gemeinden, deren Teilungen und Unterteilungen gibt, geschweige denn die endlosen Variationen innerhalb einer Region. „Die Rezepte in meinem Buch sind hauptsächlich aus der Region von Tamil Nadu, mit der ich vertraut bin. Sie können weiter auf die Tamil-Iyer Brahmanen-Haushalte lokalisiert werden, im Tanjore Distrikt, im Kaveri Flußbecken usw. d.h. diese Gerichte haben ihre ganz speziellen  Geschmacksrichtungen aus einer ganz speziellen Geschichte und Geographie einer Region entwickelt.

„Von meinen Altvordern habe ich gelernt“, erinnert sich Tante Madhuram, „dass Kochen eine Kombination von Suchi, Ruchi, Acharam ist, von Reinheit, Geschmack und Disziplin. Es war oft schwer, meinen heranwachsenden, skeptischen Kindern die archaisch und etwas willkürlich erscheinende Küchenpraxis meiner älteren Verwandten zu erklären: die strikte Trennung von Töpfen für gekochte und ungekochte Speisen; zu kochen erst nach einem reinigenden Bad; zu essen erst nachdem eine Hand voll frisch zubereiteter Reis der Familiengottheit als Opfergabe gereicht wurde und die Krähen gefüttert waren  – sowie eine lange Latte von „Du darfst und Du darfst nicht“-Regeln. Na ja, vielleicht waren einige Praktiken übertrieben, aber die Grundprinzipien bleiben gültig: Hygiene, Ehrfurcht, Respekt, Dankbarkeit  und Teilen. Das bringt mich zu Annapurni, der Gottheit für Nahrung und Überfluss: In der Hindu Ikonegraphie wird die Göttin in verschiedenen Manifestationen verehrt: Saraswati für Bildung und Wissen, Lakshmi für Reichtum, Parvati für Wohlergehen, und eben Annapurni. Mit ihrer Schöpfkelle symbolisiert sie das Füttern der Menschheit mit den Speisen und der Milch der Erkenntnis.“ Ihr widmet Tante Madhuram ihr Kochbuch.

Und Tante Madhuram widme ich diesen Artikel. In der persönlichen Widmung in meinem Exemplar steht in ihrer klaren Handschrift: „in  ganzer Liebe und mit Annapurnis Segen für Gesundheit und Glück von Deiner „Lieblingstante“ (durch einen ihrer Lieblingsgeister!).“ Gemeint ist eine ihrer Töchter, die mir das Buch brachte.

Tante Madhuram starb vor 4 Jahren und so ist aus meiner Lieblingstante nolens volens auch mein Lieblingsgeist geworden. Und wenn ich sie besonders vermisse, dann brauche ich nur in ihren Rezepten zu blättern, und ich rieche Erinnerungen: ihr Sambar – dieses Gedicht von Tamarinden-Linsen, ihr Masala Dosai, ihr Rava Uppama, ihr Paruppu Usili, ihr Payasam, und – unvergessen – ihr Zitronen-Rasam, diese feurige, süß-sauer-scharfe Brühe (klar oder gerührt), der ultimative Retter für den Kater am Morgen nach einer exzessiven Feier!

Als Kinder vertrieben wir eventuell aufkommende Langeweile am Tisch mit einem Spiel, das wir Race with Rasam nannten, zum ewigen Ärger der Erwachsenen. Da traditionell mit der rechten Hand gegessen wird, ging es in unserem Kinderspiel um den Wettlauf, ob der Rasam zuerst den Mund oder den Ellenbogen erreichte. Die Erwachsenen waren ganz entschieden not amused. Heutzutage schlürft man den Rasam aus einem Becher. Welch Verarmung der infantilen Tischsitten! Tja, der Duft der Erinnerung. Ich vermisse meine Lieblingstante sehr.

Wagen Sie doch auch den Schritt in den Mikrokosmos  einer Tamil-Iyer Brahmanen-Küche aus dem Tanjore Distrikt im Kaveri Flussbecken und lassen Sie sich von Annapurnis Schöpfkelle segnen und von Tante Madhuram in die Geheimnisse dieser speziellen kulinarischen Tradition führen.  Das Buch ist zwar nicht auf Deutsch erschienen aber in einem sehr klar verständlichen Englisch geschrieben und kann hier bestellt werden.

Ein Rezept verrate ich noch, damit Sie auf den Geschmack kommen:

Zitronen-Rasam

½ Tasse Toor Dal (gelbe geschälte Toor Linsen)Toor Dal kochen bis die Linsen weich sind. Kalt stellen, dann mit einem Kochlöffel zerdrücken.
½ Tasse Tomatensaft2 Tassen Wasser1 Teelöffel Salz¼ Teelöffel GelbwurzGebe Wasser, Tomatensaft, Salz und Gelbwurz dem gekochten Dal hinzu und bringe es zum Kochen.
2 Esslöffel Ghee (geklärte Butter)2 mittelgroße Tomaten, fein gehacktDünste die Tomaten in dem Ghee
¼ Teelöffel AsafötidaFüge Asafötida hinzu. Wenn der Rasam zu schäumen beginnt, nehme den Topf von der Herdplatte. (Achtung: Rasam verliert jeglichen Geschmack, wenn er zu lange gekocht wird)
1 Esslöffel Ghee½ Teelöffel Senfkörner2 kleine grüne Chilis fein gehacktErhitze Ghee in einer Pfanne; füge die Senfkörner und grüne Chilis hinzu. Sobald die Senfkörner „knallen“ gib es zu dem Rasam
2 Esslöffel Zitronensaft. Ein Paar Stängel frischen KorianderDann kommt Zitronensaft zum Rasam und gut umrühren. Garniere mit Koriander – und serviere ihn.

© Cultura21, 17.1.2009

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Die Autorin

Navina Sundaram ist Journalistin. Sie lebt und arbeitet in Hamburg.


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Foto im Artikel gelöscht wegen fehlender Copyright-Angabe. 4.4.24


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