15. September 2011 | Der Fall „Ustica“

Wahrheit unerwünscht

von Davide Brocchi. Rimini


Das Gericht von Palermo hat die italienischen Ministerien für Verteidigung und für Verkehr wegen „Versäumnissen, Fahrlässigkeit und Irreführung“ verurteilt. Sie haben jahrelang versucht, die Ermittlungen über eine 1980 abgestürzte Maschine der Fluggesellschaft Itavia systematisch zu behindern. Die Verwandte der 81 Passagiere, die dabei ums Leben kamen, sollen nun 100 Millionen Euro Entschädigung erhalten. Die Richter wollen herausfinden, wer damals das Flugzeug über dem Tyrrhenischen Meer abschoss – und schauen mit Interesse nach Libyen.

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27. Juni 1980: Auf dem Wege von Bologna nach Palermo stürzt eine Maschine der Fluglinie Itavia nördlich der süditalienischen Insel Ustica ab. Alle 81 Passagiere kommen ums Leben. Die Gründe für den Absturz sind zunächst unklar. Das Merkwürdige: In den Radarstationen, die die Bewegungen in dem Flugraum über das Tyrrhenische Meer registrieren, werden die Daten über die Stunden des Unfalls systematisch gelöscht. Militärs, die Informationen über den Fall haben, kommen nach und nach unter z.T. mysteriösen Umständen ums Leben. Zwei von ihnen waren Piloten der Frecce Tricolori und starben im August 1988 beim Flugunglück in Ramstein.

Nach 31 Jahre kennt man die genauen Ursachen der Tragödie des Itavia-Fluges immer noch nicht. Aber es gilt nun als erwiesen, dass sich „umgeleitete Elemente des Staates“ jahrelang sehr bemüht haben, die Ermittlungen über den Fall zu verhindern oder auf die falsche Spür zu führen. Das Gericht von Palermo hat diese Woche zwei italienische Ministerien (Verteidigung und Verkehr) wegen „Versäumnissen, Fahrlässigkeit und Irreführung“ verurteilt. Den Verwandten der Opfer müssen sie nun eine Rekord-Entschädigungssumme von 100 Millionen Euro zahlen (plus Zinsen und zusätzliche Lasten).

Das Urteil ist ein wichtiger Schritt zur Wahrheitsfindung. Dafür haben die Ermittler wichtige Indizien in der Hand. Zuerst: Verschiedene Gutachten haben ein Auseinanderbrechen der Itavia-Maschine durch Alterung ausgeschlossen. Zweitens: Bei der Durchsuchung der Resten der Flugmaschine fand man Spüren von Explosivstoffen. Neben dem Wrack auf dem Meeresgrund lagen Teile einer Luft-Luft-Rakete westlichen Baus. Drittens: Wenige Tage nach dem Absturz der Zivilmaschine fand man auf den Bergen der Region Kalabrien die Reste eines abgeschossenen libyschen Kampfflugzeuges. Viertens: Die NATO weigert sich bis heute, die italienischen Ermittlern zu unterstützen und ihnen wichtige Dokumente zur Verfügung zu stellen.

Ein erstes Gutachten kam bereits im März 1989 zu dem Schluss, dass das Flugzeug der Itavia irrtümlich durch eine Luft-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Diese Ansicht wurde durch eine staatliche Untersuchungskommission im gleichen Jahr bestätigt. Die Anwälte der Verwandte der Opfer sind überzeugt, dass es eine französische oder amerikanische Rakete war, die die Maschine traf. Diese Aussage machte auch der ehemalige Staatspräsidenten Francesco Cossiga, der als Zeuge von den Richtern vernommen wurde.  Der Itavia-Flug könnte damals Mitte in einen Kampf zwischen libyschen und westlichen Militärflugzeugen über dem Tyrrhenischen Meer geraten sein.

Der Fall der Gaddafi-Regime in Libyen macht den italienischen Ermittlern und den Verwandten der Opfer Hoffnung: Nun könnten sie Zugang zu entscheidenden Dokumenten bekommen, die bisher in den libyschen Geheimarchiven versteckt blieben.



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